Der Krummstab ist eine Symbolversion des Hirtenstabes, mit dessen Krümme der Hirt seine Tiere an den Hammelbeinen packt. Kardinäle, Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen tragen ihn. Aber der Papst nicht. Deshalb kann er auch empfehlen, Bücher jenseits der Heiligen Schriften zu lesen, ohne auf den Index unkatholischer Literatur zu verweisen. Matthias Buth begrüßt den Hirtenbrief mit poetischen Empfehlungen.
Na klar, Marcel Reich-Ranicki war einer, der wusste Bescheid über deutsche Literatur, und die Medien setzten ihn auf den Thron des Papstes, des Literaturpapstes. Ihm zuzuhören, war immer amüsant und forderte – zur Zustimmung oder Ablehnung. So zu dem Satz: „Einer der dümmsten Sätze, der je von einem deutschen Lyriker gesagt wurden, stammt von Benn: Bei jedem Lyriker gebe es nur fünf oder sechs gute Gedichte. Ich weiß nicht, warum dieser Satz immer zitiert wird. Bei Goethe finde ich 56 oder 76 gute Gedichte, bei Heine 16 oder 26.“ Das war im März 1988 und wirkt immer noch nach.
Ohne Gedichte lässt sich die Welt nicht erfassen, vielleicht ist es auch kaum möglich, das zu wollen. Und gerade deshalb wird gedichtet, in allen Sprachen und Formen, besonders im Deutschen, ist doch die Sprache das Medium, das uns ausmacht und zu dem führen kann, was unserem Land und Nation den Namen gibt. Jeder Pop-Song ist Lyrik. Milliarden wurden und werden geschrieben. Singen und dichten sind eben eins, zumindest verschwisterte Disziplinen.
Und die Herrschaft über die Literatur, wem soll diese zustehen? Einem, dem Papst? Was ist die Bibel? Literatur? Wenn diese stets Gottes Wort enthielte, wäre sie dann keine Literatur mehr, eben schon darüber hinaus? Oder ist das Wort, gleich in welchen Sprachen, immer göttlich, zumindest jedoch dann, wenn es aus reinem Herzen kommt, wenn Geist und Gemüt sich verbinden?
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ So beginnt das Johannes-Evangelium und ist damit ein, vielleicht der Grundtext zur Literatur. Sprechen ist Leben, ist Sein und auch: Wort, denn Wort ist Tat. Es entzündet Licht und damit Hoffnung. Das Johannes-Evangelium greift die ersten Sätze der Bibel auf, die Genesis: „Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht.“
Sind das alles nur Sprachbilder, Metaphern, die uns Fassung geben sollen, also Literatur, oder ist die religiöse Dimension nicht unabdingbar mit der künstlerisch sprechenden, also der dichterischen verbunden? Nicht von ungefähr sprechen wir von den drei Buch-Religionen bei Judentum, Christentum und Islam. Und die Verschränkungen, ja Verschwisterungen aller drei Grundtexte sind jedem erkennbar. Von Juden und Christen kanonisiert, also zu göttlichen Texten angesehen und verherrlicht ist das Hohelied, jene so sinnlichen Liebesgedichte, die König Salomon zugeschrieben werden und die orientalische Sprachgesten und -bilder aufgreifen, um die Liebe, die körperliche Freude von Liebenden zu zeichnen. Kann es schönere Liebeverse geben, Verse, die nicht die Geliebte für Gott symbolisieren, sondern die das Lieben als sinnlichen, entgrenzten und somit göttlichen Akt umspielen? Salomons Verse bleiben, und sie sind göttlich schön:
Schön bist du, meine Freundin, / ja, du bist schön.
Hinter dem Schleier / deine Augen wie Tauben.
Dein Haar gleicht einer Herde von Ziegen, /
die herabzieht von Gileads Bergen.
Deine Zähne sind wie eine Herde / frisch geschorener Schafe, /
die aus der Schwemme steigen.
Jeder Zahn hat sein Gegenstück, keinem fehlt es.
Rote Bänder sind deine Lippen; lieblich ist dein Mund.
Dem Riss eines Granatapfels gleicht deine Schläfe / hinter dem Schleier.
Wie der Turm Davids ist dein Hals, /
in Schichten von Steinen erbaut;
tausend Schilde hängen daran, / lauter Waffen von Helden.
Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, /
wie die Zwillinge einer Gazelle, / die in den Lilien weiden.
Wenn der Tag verweht und die Schatten wachsen /
will ich zum Myrrhenberg gehen, / zum Weihrauchhügel.
Alles an dir ist schön, meine Freundin; / kein Makel haftet dir an.
Immer wieder verwundert, dass das es die Bibel ist, die das so sagt. Und wie genial, dass sich Juden und Christen diese Liebesverse nobilitierten und zu Grundtexten ihrer Offenbarungsschriften ansehen. Das sollten uns Kardinäle, Bischöfe (besonders die weiblichen in der evangelischen Kirche) und alle Rabbis deutlich machen, erst recht der Papst in Rom. In Psalm 45 steht ein inniges Brautlied, das den „Söhnen Korachs“ nach der Weise „Lilien“ vorzusingen ist. Auch dort dichtet die Bibel in den Versen: „Mein Herz dichtet ein feines Lied, einem König will ich es singen, / meine Zunge ist ein Griffel eines guten Schreibers.“ Wie schön: die Zunge schreibt. Ein metaphorisches Bild, das sprechen und schreiben verbindet, dem Kuss nicht fern. Wie gut zu wissen, dass Altes und Neues Testament dichten in Vers und Prosa, dass sie Geschichten und Gleichnisse erzählen, die uns zärtlich machen, die uns trösten und Hoffnung geben können. So ist die Bergpredigt Jesu ist ein großes Gedicht, ein Hymnus von universaler Weite.
Das erste deutsche Gedicht entstand in Bayern in Wessobrunn im Jahre 814 und ist ein Gebet, eben das Wessobrunner Gebet. Es geht von der Erschaffung der Erde aus, eigentlich von der Zeit davor, „als da nicht war an Enden und Wenden“, als „der eine allmächtige Gott, der Wesen gnädigstes“ erschien, an den sich dann das Gedicht, das Gebet also wendet. Denn beide Sprachformen sind verschwistert.
Dichter und Dichterinnen aller Sprachen haben sich immer anregen lassen, zu Gott zu sprechen und im anderen göttlichen Funken zu erkennen. Die Bibel gab und gibt ihnen bis heute den entscheidenden Referenzraum. Martin Opitz, Andreas Gryphius und die anderen schlesischen Barock -Dichter wie Paul Gerhardt und Angelus Silesius gehören dazu, auch Martin Luther, Friedrich Rückert, Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Peter Hebel, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe, Matthias Claudius - ach, wer nicht? Und auch der Spötter und Könner Heinrich Heine ist dabei. Im 20. Jahrhundert bis die Gegenwart wird die Dimension Gott aufgerufen, von Else Lasker-Schüler, Hilde Domin, Christine Busta, Getrud Kolmar, Christine Lavant bis Rose Ausländer, Peter Huchel, Reiner Kunze, Hanns Dieter Hüsch und Ulla Hahn. Anthologien wie Die Bibel in den Worten der Dichter, die Bertram Kircher 2005 herausgegeben hat und Gottesgedichte, Ein Lesebuch zur deutschen Lyrik nach 1945, herausgegeben 2011 von Helmut Zwanger und Karl Josef Kuschel, reißen die Himmel auf und sagen uns einmal mehr: Gott ist der Dichter.
Eigentlich dürfte es keine Überraschung sein, dass der derzeitige Papst Franziskus in einem Hirtenbrief dringlich darum wirbt, sich für die Literatur zu öffnen, Romane und Gedichte zu lesen. Und es ist es doch, es erstaunt, dass er sich für das Lesen fiktionaler Werke der Literatur ausspricht; dazu gibt er Beispiele aus der spanischen Literatur. Er tat es vor wenigen Wochen und wandte sich an die 1,4 Milliarden Katholiken, besonders aber an die Vermittler der Bibel, an die Priesteramtskandidaten und Pastoralreferenten. Der Rundbrief „Wert über die Rolle der Literatur in der Ausbildung“ vom 4. August 2024 wirbt um die Lektüre von Romanen und Gedichten „auf dem Weg der persönlichen Reifung“. Es geht dem Papst also nicht um Werke, die sich literarisch um die Zuwendung, Erfassung und Zweifeln an Gott bemühen, nicht um das dichterische Profil der Bibel, sondern um Bücher, die außerhalb dieses Orbits liegen. Er erkennt, dass das Lesen Herz und Verstand ausbilden, dies sei besonders für „den Hirten“ wichtig, nämlich für dessen freier und demütiger „Ausbildung der eigenen Vernunft“ und „zur fruchtbaren Ausbildung des Pluralismus der menschlichen Sprache.“
Für den Pontifex aus Rom ist die Literatur Mittel zum Zweck, sie bildet einen Erlebnisraum aus, eine Art Membrane für die Hauptaufgabe der Priester, „das Herz der Menschen von heute zu berühren“, damit sie „bewegt und offen“ seien „für die Verkündigung der Herrn Jesu“. Literatur und Poesie seien deshalb von „unschätzbarem Wert.“
Ein Buch könne eine Oase sein oder innere Räume öffnen. Es sei früher, also vor der Allgegenwart sozialer Netzwerke, Mobiltelefone und anderer Geräte, eher möglich gewesen, den Weg dorthin zu finden, um sich dem Reichtum, den ein Autor in seinem Werk ausbreite, zu öffnen und so „den Reichtum seiner eigenen Person zur Entfaltung zu bringen“. Für den Papst ist das Buch ein Dialogpartner. Er erkennt die intellektuelle Verarmung der Priester, die keine Literatur lesen. In der Praxis habe Literatur „mit dem zu tun, was jeder von uns vom Leben begehrt“ und trete in eine „intime Beziehung zu unserer konkreten Existenz mit ihren wesentlichen Spannungen, Wünschen und Bedeutungen.“
Der Papst erzählt in seinem Brief von seiner Zeit als Literaturlehrer auf der Jesuitenschule in Santa Fe. Dort wurde er damals in den Jahren 1964 und 1965 aufgefordert, die Geschichte von „El Cid“ zu lehren, die Schüler wollten aber lieber die Werke von García Lorca lesen. Diesem Wunsch habe er nachgegeben, denn durch zeitgenössische literarische Werke habe man einen „allgemeinen Geschmack für Literatur und Poesie“ bekommen. All dies führe dazu, dass man „den Durst vieler Menschen nach Gott“ besser sehen könne. Man dürfe niemals „das `Fleisch` Jesu Christi aus den Augen verlieren, jenes Fleisch aus Leidenschaften Emotionen, Gefühlen, konkreten Geschichten, Händen, die berühren und heilen, Blicken, die befreien und ermutigen, aus Gastfreundschaft, Vergebung, Empörung, Mut, Unerschrockenheit, mit einem Wort: aus Liebe“. Nur so könne sich Göttlichkeit entfalten.
Das sind erstaunliche Empfehlungen des Papstes und lassen eine Welt-Zugewandtheit erkennen, die manche der katholischen Kirche nicht zutrauen und eher bei den bibelzentrierten evangelischen Christen vermuten. Aber die Bibel offenbart eine sinnliche Religion, die Fleisch und Wort verbindet. Das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms macht dies auch deutlich, wo der Komponist nur mit Bibeltexten seine Trauermusik ausstattet. Die beiden Oratorien von Felix Mendelssohn Bartholdy „Paulus“ und „Elias“ zeigen dies auch.
Franziskus kommt von der spanischen Literatur und liebt offensichtlich die Texte von Federico García Lorca, und so die Gedichte des Spaniers.
Casida der hingestreckten Frau
Dich nackt sehen ist Erinnerung an die Erde,
die glatte Erde, von Pferden leergefegt.
Die Erde ohne Binsen, reine Form,
der Zukunft verschlossen: Reich des Silbers.
Dich nackt sehen ist die Begierde des Regens
begreifen, der die matte Gestalt sucht,
oder das Fieber des riesengesichtigen Meers,
das an seiner Wange kein Licht findet.
Das Blut klingt durch die Schlafzimmer
und kommt mit blitzenden Schwertern daher,
aber du weißt nicht, wo sich Kröten-
herz und Veilchen verbergen.
Dein Bauch Wurzeln im Kampfe,
deine Lippen umrißloser Morgen.
Unter den lauen Rosen auf dem Bett
stöhnen die Toten, bis die Reihe an sie kommt.
Casida de la mujer tendida
Das sind Verse, die an das Hohelied erinnern, zärtliche Zeilen zu einer Frau, deren Schönheit im Tod weiterblüht. Auch davon spricht Franziskus. Wie gut, das zu wissen. Aber wie verstörend, dass es immer noch einen Index in Rom gibt, auf dem verbotene Schriften stehen, die ein Katholik nicht lesen soll. Und so auch nicht Jean-Paul Sartre und - horribile dictu – Heinrich Heine. Wenn der Papst nun konsequent wird und mit ihm seine Curie, muss er den Index löschen, jetzt und für alle Zeit. Wie sollen die Priester und somit Christgläubigen, ja alle Menschen sonst offen sein für die Sprachen der Bibel und aller weiteren Literaturen – weltweit? Alles Fleisch ist wie Gras, dichtet die Bibel, und Brahms setzt diesen Vers in Klang.
Erstellungsdatum: 02.09.2024