Wer die Welt kennenlernen will, übersieht gewöhnlich, dass dieselbe vor der Haustür beginnt. Und wer in die Fremde will, muss nicht weit reisen. Wen aber kulturelle Neugier antreibt, wer mehr über unsere Geschichte, Herkunft und das Wirken unserer Kulturschaffenden, über Architektur und Landschaft erfahren will, muss fahren. Matthias Buth hat sich vorgenommen, das Netz der Kraftlinien, die Kunst und Natur, Geschichte und Zugehörigkeitsgefühl verbinden, aufzuspüren.
Worte lagern lange in uns, sind Schläfer, die sich plötzlich aufmachen und um sich greifen, die plötzlich mehr wissen, so als hätten sie sich aufgetankt mit Erinnerungen, Klängen und Bedeutungen, die sie in sich verschlossen hatten und nun aufblühen, aufklingen und einen mitnehmen zu vergessenen oder verwunschenen Stellen und Orten. Als hätten sie auf mich gewartet, als würde erst jetzt der Sommer seine Winde über die Dächer und Hügel kämmen, über Straßen und Plätze.
Der Tod fährt immer mit, die Autobahn kennt nur hohes Tempo, dreistellig. Man ist dem Auto ausgeliefert, es muss alles stimmen an Technik und Fahrverhalten, der Körper, die Augen und die Hände sehen nicht alles, spüren aber, wenn es noch mal gut gegangen ist, die Windböe, das Aquaplaning, das Ausscheren des Autos voraus, dass eben alles nicht an der Leitplanke geendet ist: Am Grünstreifen zwischen Hin und Her, der zum Todesstreifen werden kann, den man so nicht sehen will, dieser sieht aber den Fahrer an bei Tempo 160 und mehr.
Der Grünstreifen teilt
Links und rechts
Vorwärts und rückwärts
Greifbar grün
Und unerreichbar
Niemandsland
Zwischen Hin und Her
Moderne Grenze
Ohne Mine
Und tödlich
Wie die Flucht
Bei Duderstadt
Das war 1984 in meinem Band „Ohne Kompaß“ (alte Schreibweise). Ein Gedicht vom Sterben, von der Autobahn und doch eine Hinwendung zum damals fast ausgeblendeten Sterben an der innerdeutschen Grenze, die so nur von wenigen so benannt wurde. Innerdeutsch, das sagten die DDR-Grenzer nicht und die westdeutsche Presse auch nicht: die einen, die SED-ideologischen Zweistaaten-Behaupter und die anderen, die Abfinder mit den sogenannten politischen Realitäten. Zweistaatler, da wie dort. „Und tödlich / Wie die Flucht / Bei Duderstadt“. Dieser Vers hat mich nicht mehr verlassen, seit 40 Jahren. Jetzt im Jahre 2024 will ich hin, will nach Duderstadt, in die Stadt mit dem weichen Namen, der nach einem unbekannten Du klingt und im Eichsfeld liegt, das immer noch mit dem Adjektiv „katholisch“ bezeichnet wird.
Mauer und Grenze, Sozialistischer Schutzwall oder Teilung durch Deutschland: es waren der Tod und die Sehnsucht nach Freiheit, die hier siedelten, hier, durch Berlin, von der Ostsee bis nach Bayern und zur damaligen Tschechoslowakei. Als die Mauer beschlossen und errichtet wurde nach dem Ulbricht-Diktum vom Juni 1961 „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, war ich zehn Jahre, ein Junge aus Wuppertal, mit den Eltern im Urlaub in der Bretagne. Französische Zeitungen berichteten. Mir wurde nichts erklärt. Das ist Politik, hörte ich. Das war am 12./13. August 1961. Der 24-jährige Günter Litfin war am 24. August 1961 das erste Opfer, als er in Berlin den Humboldt-Kanal durchschwimmen wollte und – angeschossen – ertrank. Dann ein paar Monate später Peter Fechter, der 18-Jährige. Ihm wurde in den Rücken geschossen, als er die Mauer in Nähe des US-Checkpoints Charly überwinden wollte. Er verblutete. Sein Schreien half nicht, bis es, bis er verstummte. Das war Berlin. Zwischen 1961 und 1989 wurden dort 140 Menschen getötet. An der gesamten Grenze waren es nach Schätzungen der FU Berlin 327 Getötete, bei Fluchtversuchen starben 429. Zwischen 1949 und 1989 verließen 3,8 Millionen die DDR. Nach der Grenzsicherung mit Minen, Todesstreifen und Selbstschussanlagen gelang es von 1961 bis 1989 235.000 Menschen zu fliehen, darunter 40.000 „Sperrbrecher“, die Verletzung und Tod in Kauf nahmen, um die Bundesrepublik zu erreichen. Winfried Freudenberg war der letzte, der seinen Fluchtversuch in einem Leuchtgasballon am 8. März 1989 mit dem Leben bezahlte.
„Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten“. Das galt bis 1989. Das war der Schießbefehl, den die DDR nicht zugab. Im Grenzgesetz von 1982 hatte er seine rechtliche Stütze. In der sogenannten Vergatterung wurde der Tötungsbefehl den Grenztruppen-Soldaten jeden Tag mündlich – beim Strammstehen – eingetrichtert.
Das war im Grenzabschnitt bei Duderstadt nicht anders.
Das Grenzlandmuseum Eichsfeld lässt ahnen, welch Grauen über der lieblichen Hügellandschaft lag. Auf einem sechs Kilometer langen Rundweg starren einen die „Grenzsperranlagen“, die Beobachtungsbunker und der Stacheldraht an.
Eröffnet wird der Bildungsweg durch das Hauptgebäude, das mit Verdunkelung und sich bewegenden Spiegeln und Fotos suggestiv ins Bild setzt. Die Arrestzellen im Keller, kaum mehr als vier bis sechs Quadratmeter groß, bedrücken und lassen plötzlich Namen wie Nawalny aufblitzen. Alte Trabis, ein in die Höhe gehobener Hubschrauber in Plastikplanen gehüllt und die originale „Grenzabfertigungshalle“ erinnern an den „kleinen Grenzverkehr“, als nach dem sogenannten Grundlagenvertrag von 1973 bis 1989 hier sechs Millionen hin- und herreisen konnten, vornehmlich Rentner und solche Personen aus der DDR, die ein wichtiges Familienmitglied quasi als Pfand zurückgelassen hatten. Wieviel Personen wurden hier in Duderstadt, zwischen den Dörfern Gerblingerode und Teistungen erschossen, frage ich die Museumsleiterin, die 30.000 Bücher und 200 Filmdokumente bereithält. Ohne Antwort. Wo sind die Erschossenen begraben, was sagen die Familien, wo sind die Grenzer und die Verantwortlichen der Zwangsumsiedlungen, als aufgrund der „Aktion Ungeziefer“ viele ihre Häuser verlassen mussten im Grenzbereich, um die Überwachung zu optimieren und um freies Schussfeld, das besonders Erich Honecker verlangte, sicherzustellen? Wer kehrte zurück oder wurde zumindest entschädigt? Offene Fragen. Intensiv drängt sich mir die Frage auf, warum sich so viele Westdeutsche so kommode in die Teilung eingerichtet hatten, warum sie wegschauten, lieber nach Österreich und nach Frankreich fuhren und meinten, die Leute in der DDR sollten zufrieden sein, dieser Staat sei schließlich die gerechte Antwort auf den Nationalsozialismus und die NS-Verbrechen. Und Günter Grass meinte, durch das KZ Auschwitz und all die anderen Vernichtungslager habe Deutschland die Berechtigung auf Wiedervereinigung verwirkt. Viele „68er“ sahen es ebenso. Der SED-Staat ein Friedensgarant und ihn zu erhalten sei besser als Krieg. Die Deutschen auf der anderen Seite ans Herz lassen? Nein: das waren zu ferne Verwandte. Das Diktum von den „Brüdern und Schwestern“ galt als reaktionär. Eine Nation? Vaterland: Das sagte die SED mit Parolen wie „Meine Tat für den Schutz des sozialistischen Vaterlandes“, in der Bonner Republik waren das Vaterland der „Opel Kapitän“ und die „Yellow Submarine“ der Beatles. Das alles wirkt hinein in die politische Gegenwart der ostdeutschen Länder, die sich allein gelassen fühlen.
Nun ist Duderstadt ein Herzstück Deutschlands in den Grenzen vom 3. Oktober 1990, durch den EU-Schengen-Vertrag weit geöffnet. Im südlichen Harz-Vorland liegt das Städtchen, die „Goldene Mark“ nannte man die Region im Mittelalter wegen ihrer fruchtbaren Böden. Im Hotelnamen „Goldener Löwen“ schimmert der Name noch durch, ein balkengemasertes Haus, eingebettet, ja fast eingewoben in ein Ensemble von ähnlichen 600 Fachwerkhäusern, restauriert und wirklich märchenhaft, so wie es in Grimms Hausmärchen oft über Prinzessinnen heißt: „über alle Maßen schön“. Die Fassaden durchziehen farbige Bänder mit Figuren und Bibelsprüchen geschmückt. Das Häusermeer wirkt, als wenn ein warmer Wind es kräuseln wollte, der Markplatz öffnet sich zu einer Friedlichkeit, als wenn Franz Liszt mit einer seiner sechs Consolations für Klavier darüber gehen wollte. Ein Verweilen, das einlädt, durchzogen von einem Bachlauf, die ehemalige Grenze markierend. Dem „Goldenen Löwen“ gegenüber zwei Stahlplastiken, eine Frau und ein Mann sich gegenüberstehend, die Vorderseiten abgeflacht, was die Unerreichbarkeit der Grenze symbolisieren soll, die innerdeutsche und sicherlich auch andere Hindernisse, die ein Hinüberkommen zum anderen verhindern. Zwei Kirchen fassen die Marktpassage ein, die Basilika Sankt Cyriakus und die evangelische Kirche Sankt Servatius. Mal war sie eine katholische, mal evangelische, es ging hin und her.
Die St. Servatius-Kirche ist geöffnet, selten für evangelische Kirchenräume. Die spätgotische, dreischiffige Hallenkirche hat einen ruhigen Atem. Jugendstilornamente überall, eine stilistische Konzession nach einer großen Brand. Als Pendant zur Oberkirche zum Abschluss der Marktstraße nach Westen am Untermarkt wird die Servatius-Kirche als „Unterkirche“ bezeichnet. Die Jahreszahl 1520 befindet sich auf einem Schlussstein im Gewölbe. Vom Vorgängerbau sind keine Markierungen zu sehen.
Niemand in diesem Haus. Nur die Organistin übt über die Bänke hinweg. Anrührend Bach. Als sie endet, klatsche ich, was sie mit Unmut quittiert. Bach ist für Gott.
Duderstadt ist vollends von einem Wall umgeben, von dort gibt das Städtchen noch einmal Behaglichkeit in den Abend. Die Kirche scheint still vor sich hinzuträumen – wie eine Glucke, die ihre Küken wärmt. Ein Postkartenbild, das einen nicht mehr verlässt.
Am nächsten Morgen, als weicher Nebel die Dächer zusammenzukleben scheint, gehe ich in die Börsengasse, wo mein Auto steht. Börsengasse: der Name verweist darauf, dass Geld in den Ort zusammengekommen war, als Handelswege sich hier kreuzten.
Die Nord-Süd-Route, die „Nürnberger Straße“, führte von Italien nach Nordeuropa , die West-Ost-Verbindung aus dem belgischen Raum über Köln und Leipzig weiter nach Osteuropa. Der Bürgerreichtum kam durch Handel und Wandel und so durch die Verbindungen der Hanse.
Es gibt Namen von Personen, von denen eine Aura ausgeht, die einen einfasst und trägt; kaum erklärlich ist es, wie bei einer Wünschelrute, die ausschlägt. Ein solcher Name ist Novalis. Ein Dichter, der sich diesen Namen gab. Eigentlich hieß er Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, sein Leben war kurz von 1772 bis 1801. Sein Nachhall als Dichter der Frühromantik blieb. Nach Hardenberg möchte ich, zum „Flecken“ Nörten-Hardenberg im lieblichen Wellenrelief des Vor-Harz und so Novalis näherkommen. Er wurde indes weder in der hochaufragenden Burg noch im Herrenhaus, dem Schloss, geboren, starb auch nicht hier (sondern in Weißenfeld) und ist dennoch mit dieser Gegend poetisch verbunden. Im immer noch nachwirkenden Blüthenstaub – Fragment verwendet er zum ersten Mal den Namen Novalis in August Wilhelms und Friedrich Schlegels Zeitschrift Athenäum. Es handele sich um einen alten Beinamen seiner Familie, bekannte er gegenüber Schlegel, der Name komme nämlich von „de Novalis“, vom Neuland oder Neubruchland. Und dies abgeleitet vom Ort Großenrode oder „magna Novalis“, einem sogenannten Edelhof der Hardenberger, die dort seit dem Mittelalter ihren Hauptsitz hatten. Die Poesie ist eben immer konkret. Novalis, der in Schloss Oberwiesenstedt geboren wurde, war also nie in Nörten. Und doch ist er mit dem Ort verbunden.
Seine Texte sind Gedankensplitter, Fragmente, auch wenn diese über mehrere Seiten gehen können. Der poetische Pointilismus seiner Werke reicht hinüber zu den Klavierzyklen, den wie Fragmente aneinander gereihten Kompositionen von Robert und Clara Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und Frédéric Chopin und vielen anderen der musikalischen Romantik und doch stets gehalten von einer innewohnenden Idee.
„Die Natur ist eine Äolsharfe – sie ist ein musikalisches Instrument, dessen Töne wieder Tasten höherer Saiten in uns sind“, schrieb er und entwarf ein, nein: sein Universum, offen für alles, für Bilder, Träume, Theorie, Reales und Surreales und sehnte sich nach einem geheimen Rhythmus, der den ununterbrochenen Fluss und die Verwandlung aller Erscheinungen bestimmte. Diese Vorstellung trug sein Schreiben. Novalis war ein guter Jurist und zudem Bergassessor, stand also mit zwei Ausbildungen voll im Leben und ist doch durch seine „Universalpoesie“ und die „Hymnen an die Nacht“ vielen nah geblieben, eben mit jenen dunklen Gedichten, die er Sophie von Kühn widmete, mit der er sich, als sie erst 13 Jahre alt war, verlobte und deren Tod mit 15 ihn zutiefst verstörte. In seinen Gedichten lebt sie weiter. Dichten als Existenzform. Die uneigentliche mit der wirklichen Welt zu verbinden, in dieser aufzugehen, das war sein Wunsch:
„Ich bin dem Mittage so nahe, dass die Schatten die Größe der Gegenstände haben – und also die Bildungen meiner Phantasie so ziemlich der wirklichen Welt entsprechen.“
Aber in Nörten-Hardenberg finde ich ihn nicht. Das Restaurant im noblen Hotel der gräflichen Hardenberg-Familie unterhalb der Burgruine und im Anschluss an die mächtige „Hardenberg Destillery“ trägt zwar seinen Namen, aber nichts macht mit dem Dichter bekannt, kein Buch, keine Tafel, kein Gedicht, kein Wort. Novalis nur ein PR-Gag. Schade.
Gedichte sind Fährtensucher, die geschriebenen und die noch nicht erfassten, die sich noch den Weg ins offene Bewusstsein suchen, einen Abdruck der Wirklichkeit, der sich ablagert und sich noch nicht sichtbar macht. Die Bundestraßen nach Höxter schaukeln hin und her und führen die Gedanken nach Corvey. Nicht ins Weltkulturerbe, sondern zu einem anderen Dichter, der hier Zuflucht fand vor den politischen Attacken und Repressionen der Obrigkeiten zur Zeit des Vormärz, zu Heinrich August Hoffmann, der seinem Namen aus Lokalpatriotismus den Namen Fallersleben hinzufügte. Dort wurde er 1798 geboren.
In einem kleinen Friedhof an der Mauer neben der Abteikirche liegt er begraben. Dass er seine letzten Lebensjahre bis zum Jahr 1874 als Archivar der Fürstlichen Bibliothek verbringen konnte, verdankte er dem Herzog Viktor I. und Fürst von Corvey. Das war 1860. Die Liszt-Freundin Prinzessin Marie zu Sayn-Wittgenstein vermittelte. Hoffmann war – nach heutigem Sprachgebrauch – ein Linker, der 1842 mit seinen freiheitsgetränkten „Unpolitischen Liedern“ (die stolze Auflage betrug 12.000 Exemplare) gegen Fürstenwillkür aufbegehrte.
Sein Eintreten für ein einheitliches Deutschland wurde ihm zum Verhängnis. Die preußische Regierung warf ihn pensionslos aus seiner Professur aufgrund seiner Bücher mit „politisch anstößigen Grundsätzen und Tendenzen“. 1843 wurde ihm die preußische Staatsbürgerschaft entzogen, und man verwies ihn des Landes. Hoffmann wurde heimatlos, ging ins Exil und irrte quer durch Deutschland, wurde aber von politischen Freunden aufgenommen, jedoch ständig von der Polizei bespitzelt und 39mal ausgewiesen, auch aus Fallersleben: dort allein dreimal. Hoffmann war nicht nur Dichter, sondern auch ein bedeutender Gelehrter, Professor für deutsche Sprache und Literatur in Breslau und – besonders bemerkenswert – Geschichtsforscher zur Geschichte der Niederlande und Flandern, was ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Leiden einbrachte. Am 26. August 1841 verfasste er im Exil, in der damaligen britischen Kronkolonie Helgoland, jenes Gedicht, das als „Lied der Deutschen“ Karriere machte. Die erste sozialdemokratische Regierung in Deutschland machte das Gedicht am 11. August 1922 zur offiziellen deutschen Nationalhymne. Der Herzog von Ratibor sicherte also Heinrich Hoffmanns Lebensabend in Covey. Die dortige Büchersammlung der Haus- und Hofbibliothek der Landgrafen vom Hessen-Rotenburg mit 30.000 Exemplaren bildete den Grundstock. Der Archivar Hoffmann machte sich 1860 gleich an die Arbeit und setzte neue Schwerpunkte. „Mein unablässiges Streben geht dahin, die Hauptfächer unserer Bibliothek zu einiger Vollständigkeit zu bringen und dann nebenbei solche kostbaren, seltenen Werke der Bibliothek zu erwerben, womit man Staat machen kann, die sich in keiner Bibliothek Deutschlands wiederfinden“, schrieb er. Und er sprach von Deutschland, das war sein Begriff, weit vor der Bismarck’schen Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles im Jahre 1871. Deutschland, das war ihm ein politischer wie poetischer Begriff, begründet in der Sprache und der Freiheit. Inmitten der Bücherschränke der nunmehr auf 74.000 Bücher angewachsene Bibliothek steht in weißem Stuck seine Büste, in der sein Lebensprinzip eingelassen ist: „Klar und wahr“.
Die Familie von Ratibor und Corvey hat im Innenhof der ehemaligen Reichsabtei ihre Toten zur letzten Ruhe gelegt, inzwischen auch jene, die im polnischen Ratibor begraben waren, sie sind nach hierher umgebettet worden. Es gibt zwar seit 1919 keine Adelsvorrechte mehr, die Namen der alten Familien sind jedoch geblieben, bürgerlich mit vorangestellten Vornamen. Dennoch liest man im Museumsführer „Das Herzogliche Haus Ratibor und Corvey ist bis heute in fünfter Generation Eigentümer der ehemaligen Reichsabtei Corvey und des heutigen Schlosses.“ Na ja: Haus Ratibor, das ist eine Selbstzuschreibung, die der namensrechtlichen Lage in Deutschland nicht entspricht. Es gibt auch kein „Haus Preußen“, wie sich bei der medienwirksamen Auseinandersetzung zur Frage des „Vorschubleisten“ zugunsten des NS-Staates durch den damaligen Kronprinzen Wilhelm von Preußen (1882-1951) gezeigt hat, sondern nur natürliche und juristische Personen, wozu „Häuser“ nicht gehören, „herzogliche“ erst recht nicht.
Corvey liegt an der Weser, der langsame kleine Fluss kann eine Reise bestimmen, wenn seine Wellen immer wieder ins Auto blinzeln auf dem Weg nach Hause. „Wohin wollen wir? Immer nach Hause“, gibt uns ja Novalis auf den Weg. Aber wo liegt es?
Die Weser hat viele Buchten, viele Städte an ihrem Ufer, die zum Bleiben einladen, ein Hafen erst recht. Karlshafen. Ein Bad zudem, wegen der Solequellen. Im Jahre 1699 gegründet als Zufluchtsstadt für Hugenotten, für Verfolgte und Glaubensflüchtige aus Frankreich vom Hessischen Landgrafen Karl (oder Carl) als „Exulanten-Stadt“ von Hessen-Kassel. Zunächst hieß der Ort Syburg, wurde aber schon 1717 umbenannt. In der Barockzeit wurde auch ein Hafenbecken gegraben, in dem heute ein paar Motorboote schaukeln. Der Landgraf-Carl-Kanal nach Kassel, mit dem das Stapelrecht von Hann. Münden umgangen werden und mit dem der Hafen genutzt werden sollte, kam zwar nicht zustande (nach 17 km wurden die Arbeiten eingestellt), aber der seit 2019 wieder an die Weser angeschlossene Hafen prägt das Stadtbild sowie das Invalidenhaus von 1704 – für Waldenser und Hugenotten.
Hugenotten in Brandenburg, aber in Hessen? Das erstaunt, aber wer sich informieren will, auch nach den in der Politik bekannten französischen Namen wie Bouffier oder de Mazière, geht gleich am Hafen in das „Deutsche Hugenotten-Museum“, liebevoll eingerichtet über zwei Etagen in einer ehemaligen Zigarrenfabrik. Ein Fundstück. Ein Gewinn: Museum und die Menschen, die in Deutschland Zuflucht fanden. Lebens- und Kulturspuren der Hugenotten überall: die gelben Reclam-Heftchen, die Nylon-Strümpfe oder die lila Milka-Kuh, die Seife „Fleur de Cerisier“ aus Marseille und Episoden aus den Märchen der Brüder Grimm: die Menschen aus Frankreich brachten ihre Kenntnisse mit. Rheinländer wissen es sowieso, ohne Franzosen kein Karneval. Aber eben auch hierher kamen Franzosen, kam die Glaubensstrenge der französischen Protestanten, das Anderssein, dem Hessen Rettung und Sicherheit gegeben hat: Deutsche Tugenden mit Geschichte, die Mut machen.
Die Weser lässt einen nicht los, und wer sich von Duderstadt verzaubern lässt, vom Fachwerkhaus-Ensemble, das einen anlächelt, wird es in Hann. Münden ganz ähnlich gehen. Am Markplatz ist die Pforte von Sankt Blasius geöffnet, die barocke Ausgestaltung lässt eine katholische Kirche vermuten, es ist aber die „ev.-luth. Stadtkirchengemeinde Münden“, die hier einlädt. „Wäre St. Blasius von Anfang eine evangelische Kirche gewesen, so hätte man ihren Innenraum sicher schlichter gestaltet. In seinem jetzigen Aussehen aber legt er Zeugnis ab von den gemeinsamen Wurzeln und Basis der christlichen Konfessionen und dafür, dass sich in ihrer Verschiedenheit die Vielfalt der einen Gemeinde Jesu Christ ausdrückt“, schreibt Waltraud Kock im Faltblatt – evangelisch werbend und selbstbewusst. Der barocke Hochaltar verbindet sich im Stil mit dem mehr erzählenden Passionsaltar, der wohl aus dem Donauraum kommt. Der Orgelprospekt, den die Firma Klais aus Bonn 1977 eingebaut hat, sieht aus wie eine Felswand.
Auf dem Marktplatz spielen Kinder an einem Brunnen, die Spätsommerhitze lässt nicht nach. Mein Blick fällt auf eine lichte Konditorei und ich gönne mir ein Stück Himbeerkuchen. Wohin sollte ich rasch noch gehen, ich sei schon eilig, frage ich die Konditorin. Und sie sagt es mir so, wie ich es als Sextaner vom Erkunde-Lehrer gehört hatte.
„Wo Werra sich und Fulda küssen, sie ihren Namen büßen müssen. Und hier entsteht durch diesen Kuss, deutsch bis zum Meer der Weserfluss.“
Wenn Wasser küsst, kann man nicht widerstehen. Rasch laufe ich zur Dreiflüsse-Brücke, das Welfenschloss im Rücken und genieße die Gischt des Wasserfalls. Flüsse küssen immer. Und manchmal ist Deutschland eine Wohltat.
Erstellungsdatum: 08.10.2024