Es ist ein Unterschied um’s Ganze, ob man kulturelle Institutionen wie das Theater nicht besuchen will, ob man keine Gelegenheit dazu hat oder ob einem die Möglichkeit gar nicht erst angeboten wird. Letzteres ist eine Bevormundung durch Unterlassung. Denn spätestens seit Beginn der Schriftlichkeit gehört das Theater zu den wichtigsten Errungenschaften der Zivilisation. Alles, was auf der Bühne geschieht, ist von Bedeutung. Wie alle Kunst ist Theater aber immer auch ein Wagnis. Thomas Rothschild erzählt von dem großen Vergnügen, sich hineinziehen zu lassen in das Spiel, das Verstand und Gemüt bewegt.
Ich hatte Glück. Meine Eltern, selbst beruflich mit den Künsten nicht befasst und musisch nicht überdurchschnittlich begabt, gingen schon früh mit mir ins Kindertheater. Das war in Schottland, wo ich die ersten fünf Lebensjahre verbrachte. Es klingt unglaublich, aber noch heute kann ich Text und Melodie der Lieder nachsingen, die ich damals von der Bühne hörte: „I have red hair as you see, so my love must red-haired be“ oder „I have got some snuff in my old, old snuffbox“. Wenngleich ich nicht zwischen Folianten und Stilmöbeln aufwuchs, obwohl meine Eltern nicht einmal einen Plattenspieler besaßen und ihnen bildungsbürgerliches Gehabe und die Ressentiments der „besseren Kreise“ eher suspekt waren, sorgten sie, schon in Wien, wo ich zur Schule ging, über den üblichen Blockflötenunterricht hinaus, für meine ästhetische Sozialisation. Ich besuchte, ausgestattet mit Abonnements der Jeunesse Musicale, „klassische“ Konzerte und bald auch Jazzkonzerte – unvergessen meine erste Begegnung mit dieser damals noch vielfach verachteten Musikrichtung, mit dem in Smokings auftretenden Modern Jazz Quartet im Wiener Konzerthaus. Ich hatte auch ein Abonnement des „Theaters der Jugend“, das über die Lehrer vertrieben wurde, und ging auf Stehplatz ins Burgtheater und in die Staatsoper, wo man noch an der Garderobe eine Krawatte ausgehändigt bekam, ohne die man das hohe Haus nicht betreten durfte. Ich lieh mir im Amerikahaus am Kärntnerring und im Sowjetischen Informationszentrum im Porr-Haus Schallplatten aus (zur Erinnerung: in Wien waren bis 1955 die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gemeinsam präsent) und entdeckte eine neue Welt, als der Jugendfilmklub der Gemeinde Wien in der Zeltgasse eröffnet wurde.
Das alles ist nicht selbstverständlich, und ich erzähle meine Geschichte hier, weil sie als Beispiel dafür dienen mag, wie entscheidend die Sozialisation, wie bedeutsam die Anregungen in der Kindheit und der frühen Jugend für den Rest des Lebens, für die Einstellung zu den Künsten sind. Fragt man Studenten der Germanistik, von denen man ja annehmen möchte, dass eine gewisse Nähe zum Theater Bedingung für ihre Studienwahl gewesen sei, so erfährt man, dass viele von ihnen nie ins Theater gehen. Obwohl die einschüchternde Kleiderordnung heute kaum noch Geltung hat, existiert offenkundig eine Schwellenangst vor einer Institution, mit der man, zumal jenseits der Großstadt, nicht aufwächst wie mit dem Fußballplatz oder der Disco. Wem nicht beizeiten geholfen wurde, den Weg ins Theater zu finden, dem wird er möglicherweise für immer verstellt bleiben. Hier wie im Zugang zu Hochschulen erweist sich das Bildungsprivileg von Akademikerkindern als hartnäckig, und auch Städter haben nach wie vor gegenüber Kindern vom Lande einen Vorsprung, der sich für den Rest des Lebens auswirkt.
Bildung – und dazu gehört unter anderem, was allein das Theater bieten kann – ist ein zu hoher Wert, als dass man sie den elitären Snobs und den Banausen überlassen dürfte. Im Übrigen ist die heute verbreitete Koketterie mit der Unbildung meist ein Luxus der Bevorzugten. Was Bildung für jene bedeutet, denen sie vorenthalten wird, kann man zum Beispiel in „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz oder in Franz Michael Felders Autobiographie „Aus meinem Leben“ nachlesen. Wer in einem Milieu ohne Bücher aufwächst, wer nicht schon als Kind in die Leihbibliothek, zum Theater, zur Musik, zur bildenden Kunst hingeführt wird, bleibt zeitlebens im Nachteil, hat zeitlebens eine geringere Chance, einen befriedigenden Beruf, interessante Freizeittätigkeiten auszuüben. Das Schlimmste aber ist, dass die Diskriminierung von Kindern aus bildungsfernen Familien zu- statt abnimmt. Dass die Politiker bestrebt wären, solche Diskriminierungen zu verabschieden, ist nicht erkennbar. Die Beseitigung des Bildungsprivilegs, einst ein Hauptziel der Arbeiterbewegung, wurde selbst von der Sozialdemokratie opportunistisch preisgegeben. Im Zuge der europäischen Angleichung, die auch im Bildungsbereich den Bedürfnissen der Wirtschaft folgt und ihnen alle Erwägungen der sozialen Gerechtigkeit unterordnet, hat man mit der Einführung des Bachelors die Aussichten der schon Benachteiligten auch im Hochschulbereich noch verschlechtert. Und das kam nicht überraschend, das war von Anfang an voraussagbar.
Ein Missverständnis muss in diesem Zusammenhang beseitigt werden: Nicht der ist elitär, der auf der besonderen Qualität der sogenannten Hochkultur beharrt und die Minderwertigkeit einer Kultur, mit der die Massen abgefüttert werden, benennt, sondern der ist elitär, der den Massen die Hochkultur durch schlechte Bildungsvoraussetzungen vorenthält und sie nach Disneyland und zu „Mamma Mia“ schickt, um sie dafür auch noch zu verspotten. Und auch der gern behauptete Gegensatz von Hoch- und Trivialkultur führt in die Irre. Nicht alles, was als Hochkultur gilt, ist verstaubt und blasiert, und nicht alles, was der letzteren Kategorie – zu Recht oder zu Unrecht – zugeordnet wird, ist Schmarrn, und ein gesteigertes Verständnis für das Theater steht dem Genuss von Rockmusik nicht im Wege. Dass auf der Bühne immer häufiger die Rockgeschichte zitiert wird, dass man sie also kennen muss, um die Anspielungen zu verstehen, deutet in diese Richtung.
Wie man am Fußball nur wenig Freude hat, wenn man die Regeln nicht kennt und ein gutes Spiel von einem schlechten nicht unterscheiden kann, so müssen auch fürs Theater erst Maßstäbe entwickelt werden. Der Provinzialismus selbst mancher Theaterkritiker offenbart sich darin, dass sie sich nicht die Mühe gemacht haben, über den Tellerrand ihres mehr oder weniger begrenzten Erfahrungsumfelds hinauszuschauen. Als ich Mittelschüler war, hielt ich jene wunderschöne Gymnasiastin, die in einer Schüleraufführung die Fee Rosalinde in Ferdinand Raimunds „Barometer auf der Zauberinsel“ spielte, für den Gipfel der Schauspielkunst überhaupt. Dann waren es die Stars des damaligen Burgtheaters, Balser und Skoda, Aslan und Meinrad, Holzmeister und Käthe Gold, Konradi und Nicoletti, die für mich „großes Theater“ repräsentierten. Es waren wohl die eben gegründeten „Komödianten“ von Conny Hannes Meyer, die mir, noch vor der Matura, bewusst machten, was für ein altmodisches Theater am Ring und mehr noch im Theater in der Josefstadt gespielt wurde. Mein Interesse erlahmte schnell und verlagerte sich auf eine andere Kunst: auf den Film. Film – das hieß damals für uns junge Menschen nicht Hollywood, sondern Truffaut und Godard, Antonioni und Fellini, Wajda und Kurosawa. Wir entdeckten den Stummfilm und den Experimentalfilm. In welchem Theater hätten wir gefunden, was uns „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais oder „Scorpio Rising“ von Kenneth Anger an Aufregung und Provokation boten?
Es dauerte einige Zeit, bis ich das Theater für mich aufs Neue gewahrte. Es war das Theater am Geländer von Jan Grossman in der damals pulsierenden tschechischen Hauptstadt, wo ich kurz vor dem Prager Frühling studierte, aber auch Otomar Krejčas Theater hinter dem Tor und der Činoherní klub am Wenzelsplatz, die mir klar machten, dass es ein ganz anderes Theater gab als jenes, das ich aus Wien kannte.
Als ich dann 1968 nach Stuttgart auswanderte, traf ich auf das Ensemble von Peter Palitzsch mit der jungen Hannelore Hoger und mit Elisabeth Schwarz, mit Peter Roggisch und Traugott Buhre, mit Hans Mahnke und Edith Heerdegen, mit dem sympathischen Wolfgang Höper, mit Ingeborg Engelmann und mit Gerard Just. Tankred Dorsts „Toller“ habe ich mir fünf Mal angesehen. So nah an der gesellschaftlichen Wirklichkeit und zugleich eminent bühnenwirksam hatte ich Theater in Wien nur bei Gastspielen erlebt, beim Living Theatre oder eben bei Jan Grossmans „Père Ubu“. In Stuttgart lernte ich aber auch einen neuen Typus des Schauspielers kennen. Das waren nicht eitle weibliche und männliche Diven, die im Pelz mit dem Taxi am Bühneneingang vorfuhren und sich sonntags in der Radiosendung „Aus Burg und Oper“ bei Fischer-Karwin spreizten, sondern diskutierfreudige Zeitgenossen, die mitten im Leben standen und keine Berührungsängste gegenüber dem Publikum hatten. Wenn gelegentlich behauptet wird, 1968 habe keine Auswirkungen gehabt, dann besuche man einmal die Kantine eines deutschen Schauspielhauses. Der Unterschied zum Café Landtmann meiner Erinnerung, dem bis heute von Touristen gerne frequentierten „Künstlercafé“ gleich neben dem Burgtheater, ist nicht nur ein atmosphärischer. Er wirkt sich auch auf der Bühne aus.
Auf Palitzsch folgte Alfred Kirchner und bald darauf Peymann, auf Peymann Hansgünther Heyme, dann, für kurze Zeit, Ivan Nagel. Sie alle haben dem Stuttgarter Schauspiel ihren Stempel aufgeprägt und dem Publikum neue Welten eröffnet. Klaus Zehelein nebenan an der Oper muss in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden. Später sorgte Hasko Weber mit bewundernswerter Beharrlichkeit nicht nur für eindrucksvolle künstlerische Erlebnisse, sondern auch für eine Rückführung des Theaters in die Mitte der Gesellschaft. Der Blick auf das Staatstheater sollte aber nicht kaschieren, dass es in der Neckarmetropole immerhin rund 40 Bühnen gibt, auf denen man stets aufs Neue Entdeckungen machen kann.
Ich habe auch in Deutschland viel mittelmäßiges Theater gesehen und in Österreich, zumal an der Burg während der Intendanz des patriotisch geschmähten Claus Peymann, Inszenierungen, die auf der Höhe der Zeit standen. Vielleicht muss man es als Symptom werten, dass die Opposition der seinerzeit experimentierfreudigen Kellertheater – im Spielplan wie in der Ästhetik – praktisch verschwunden ist. Mag sein, dass sie sich angesichts der Entwicklung an den großen Häusern erübrigt hat. Aber man sollte sich nicht scheuen, Mittelmaß Mittelmaß zu nennen. Nur der Spießer gibt sich damit zufrieden. Die Lust am Theater bedarf stets neuer Nahrung. Eine Leidenschaft kann nicht gedeihen, wo Schauspielerinnen und Schauspieler in Tratschkolumnen mehr zu verkünden haben als auf der Bühne.
In meinem Leben als Theaterzuschauer gab es immer wieder Momente, die meine Sucht erneuert haben. Es gab Inszenierungen, die sich meinem Gedächtnis unauslöschbar eingeprägt haben und mit einem Glücksgefühl verbunden sind, das nur ästhetische Erlebnisse auszulösen vermögen. Der Shakespeare-Zyklus und „Die Atriden“ von Ariane Mnouchkine gehören dazu und Peter Brooks’ „Sturm“, einige Arbeiten von Peter Zadek, Peter Stein, Claus Peymann und Luc Bondy ließen sich ebenso nennen wie Kabuki-Vorstellungen in Tokio, der „Arturo Ui“ mit Martin Wuttke in der Regie von Heiner Müller ebenso wie die Experimente von René Pollesch zwischen Berlin, Stuttgart und Wien; auch der New York Street Theatre Caravan und anderen Freien Gruppen, dem Warschauer Studententheater der Satiriker (STS) und dem Budapester Katona József Theater verdanke ich ein paar Abende, die mein Leben als Theaternarr verschönt haben.
Noch ein Missverständnis wäre aufzuklären: Die Lektüre von Dramen ersetzt nicht das Erlebnis eines Theaterbesuchs. Dramen realisieren sich auf der Bühne. Theaterleidenschaft kann nicht durch Textkenntnis, noch nicht einmal durch Fernsehaufzeichnungen entstehen. Die Erregung, die nur die Atmosphäre eines Theaterraums, ein sich (leider immer seltener) auf ein gebautes Bild öffnender Vorhang, die physische Präsenz sich verstellender Menschen zu erzeugen vermögen, ist eine Qualität für sich, die sich von jener des Lesens unterscheidet. Das heißt nicht, dass die Lektüre und Diskussion von Dramen im Schulunterricht überflüssig wären, dass es belanglos wäre, was da im Lehrplan und auf der Leseliste steht und wie man didaktisch damit umgeht. Mit der Verführung zum Voyeurismus, von der dieser Aufsatz handelt, hat es jedoch nur entfernt zu tun. Trotzdem sei hier angedeutet, was als unverzichtbar gelten könnte für die Vorbereitung und Begleitlektüre zum Theaterbesuch:
Zweifellos wird eine Bildung ohne Kenntnis der geschmähten „Klassiker“ eine Halbbildung bleiben. Ohne sie sind zahlreiche Bezüge auch heute geschriebener Stück nicht verständlich. Die griechischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides muss man überblicken, schon weil deren Stoffe die Dramatik bis in unser Jahrhundert angeregt haben. Die Komödien von Aristophanes sollte man lesen, weil sie die Grundlagen für diese Gattung gelegt haben. Es versteht sich wohl von selbst, dass an Shakespeare kein Weg vorbei führt, an seinen Königsdramen ebenso wenig wie an seinen Komödien, am „Hamlet“ ebenso wenig wie am „Sommernachtstraum“. Gerade neben der klassischen Strenge von Racines „Phädra“ mag die immer wieder verblüffende Modernität Shakespeares zur Geltung kommen.
Die Lektüre von Molière wird für den angehenden Theaterfan ebenso unabdingbar sein wie die von Goldoni, anlässlich dessen „Diener zweier Herren“ eine gründlichere Beschäftigung mit der vorausgegangenen Tradition der Commedia dell'arte sich anbietet. Theatergeschichtlich weniger bedeutend, für den deutschsprachigen Kontext aber unverzichtbar sind exemplarische Dramen der Aufklärung, des Sturm und Drang und der deutschen Klassik, etwa „Emilia Galotti“ und „Nathan der Weise“ von Lessing, „Der Hofmeister“ oder „Die Soldaten“ von Lenz, „Die Kindermörderin“ von Wagner (von der sich ein thematischer Bogen spannen lässt über Hebbel und Hauptmann bis zu Friedrich Wolf), von Schiller etwas und von Goethe zumindest „Iphigenie auf Tauris“ und „Faust I“ und von Kleist „Amphitryon“ und „Der Prinz von Homburg“, vielleicht noch als eins der wenigen Exemplare einer gelungenen deutschen Komödie „Der zerbrochne Krug“.
Was Komödie im besten Fall sein kann, lässt sich sehr viel deutlicher demonstrieren an Gogols „Revisor“. Büchner müsste zumindest mit „Leonce und Lena“ und mit seinem „Woyzeck“-Fragment bekannt sein. Für den Naturalismus muss Ibsen an erster Stelle stehen, schon wegen der Auswirkungen, die er auf das Drama des zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere in Deutschland, hatte. Mit Tschechow ist ein weiterer Dramatiker genannt, dessen Bedeutung für die weitere Entwicklung der Bühnenliteratur gar nicht überschätzt werden kann. Fast zwingend schließt sich an Tschechow die Lektüre von Gorki, am besten seines „Nachtasyls“ an.
Wedekinds „Frühlings Erwachen“ darf in dem hier angedeuteten Kanon ebenso wenig fehlen wie Strindberg und Sternheim. Wie sollen junge Menschen abschätzen können, was heute am Theater wirklich originell und was längst mustergültig durchgeführt ist, wenn sie Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ nicht kennen? Und natürlich Brecht.
Ernst Toller verdient es, in Erinnerung gerufen zu werden, zum Beispiel mit seinem „Hinkemann“. Auch Friedrich Wolfs „Cyankali“ ist eine moderne Lektüre wert. Von den einflussreichen, aber doch recht rasch veralteten Amerikanern sollten eventuell Thornton Wilder, Tennessee Williams, Eugene O'Neill und Arthur Miller gelesen werden. Zu den Unverzichtbaren gehört mit Sicherheit Beckett, aber auch ein Hinweis auf die osteuropäische Variante des Theaters des Absurden – Mrożek, Rózewicz, Havel – wäre in Erwägung zu ziehen. Das Marat/Sade-Drama von Peter Weiß sollte schließlich in der Schule ebenso vorgestellt werden wie das „neue Volksstück“ eines Sperr, Kroetz oder Fassbinder, wie – zum Beispiel – Texte von Dürrenmatt, George Tabori, Peter Hacks, Heiner Müller, Volker Braun, Handke, Jelinek, Bernhard, Turrini und Werner Schwab. Die Liste lässt sich mühelos fortsetzen bis zu Loher, Schimmelpfennig oder Köck (den übrigens kaum verstehen kann, wer das antike Drama nicht kennt).
In den „Flüchtlingsgesprächen“ lässt Bertolt Brecht seinen Ziffel sagen: „Ich hab mich oft gewundert, warum die linken Schriftsteller zum Aufhetzen nicht saftige Beschreibungen von den Genüssen anfertigen, die man hat, wenn man hat. […] Das ist ja traurig, dass mancher die Pyramiden nicht gesehen hat, aber ich finds beklemmender, dass er auch noch kein Filet in Champignonsauce gesehen hat.“ Das Filet in Ehren. Aber es kommt auch auf die Pyramiden an. Und aufs Theater. Wer, wenn nicht Brecht, sollte davon überzeugt sein. Das Beste vom Besten ist für „die Massen“ gerade gut genug. Auch auf der Bühne. Billiger sollte man es nicht geben. Wer jedoch nicht an der Hand genommen wird von seinen Eltern oder seinen Lehrern, um ein erstes Mal darüber zu staunen, wie da jemand vorgibt, ein Anderer zu sein, der wurde möglicherweise von vornherein seiner Chance beraubt. Von der Begeisterung über die Laiengruppe, die in der näheren Umgebung einen Schwank umsetzt, zur Bereitschaft, sich großes Theater in einer unbekannten Sprache, übertitelt, anzusehen, mag es ein weiter Weg sein. Wer ihn gar nicht erst beschreitet, weil ihn niemand darauf hingewiesen hat, wurde von vornherein betrogen.
Verteilungsgerechtigkeit ist entgegen einem (von interessierten Kreisen) verbreiteten Gerücht nach wie vor ein anstrebenswertes Ziel. Das gilt für Einkommen und Besitz. Aber es gilt zumindest ebenso für den Zugang zu kulturellen Einrichtungen und die Befähigung, diese sinnvoll zu nutzen.
P.S.: Ob dieses Ziel durch eine Privatisierung von Theatern gefördert oder torpediert wird, wäre aus gegebenem Anlass sehr genau, mit Blick in andere Länder und in die Geschichte, zu erwägen.
Erstellungsdatum: 04.10.2025