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Gedicht

Memento

Alexandru Bulucz


                                                                                                   Gewann G 1718

Nicht dass ich irgendwann sterben werde, ist das Problem.
Das Problem ist, dass irgendwann, wenn ich Glück habe
o. Pech, wie man’s nimmt, irgendeine Hiobspost daher-
kommen wird, in Gelb o. gleich in einem weißen Kittel,

u. ich wissen werde, jetzt betrittst du ein Provisorium.
Das Problem ist also, dass ich von mir wissen werde,
jetzt stirbt er. Bald o. so. Ich weiß nicht. Ich rauche zu viel,
ich drehe sie lieber. Ich bevorzuge, meinen Espresso

in einer bestimmten Reihenfolge zu trinken: Bitte einen
doppelten! Noch einen einfachen, bitte! Täglich dasselbe.
Zwischen diesem u. jenem vergeht eine Stunde, schätze
ich, in der ich drei drehe o. vier. Manchmal schlage ich

die Beine übereinander, meistens das linke über das rechte,
dann zeigt dieses nach links, jenes nach rechts. Gerade ge-
duscht, frage ich mich, warum mein rechtes Knie braun ist.
Ich erinnere mich an den Sport, denke über die Geländeläufe

in Rumänien nach, das Laufen überhaupt, das aus dem Staat
Weglaufen, das Internat an der Grenze zu Thüringen,
der hessischen, die versalzene Werra, den Geruch des Leders,
aus dem Basketbälle gemacht werden, Körbe aus roten Ringen

u. weißen Netzen, die plötzlichen Körpertäuschungen
während des Spiels, den immensen Druck auf die Gelenke,
die Unbarmherzigkeit sportlicher Ziele gegenüber Kreuz-
bändern, die Schroffheit des Willens gegenüber Körpern

(vor einem meiner wichtigsten Spiele hatte ich Schmerzen
in meinen Achillesfersen, ich fing an, sie mit Brennnessel-
hieben auszupeitschen, fing an, Schmerzen mit Schmerzen
auszutreiben, Schmerzen zu überschmerzen, ich wollte ja

spielen), die tausendfach geübte Wurfbewegung, die blinden
Würfe mit der starken Hand, die Würfe mit der schwachen,
angestrebte Symmetrien, Muskelspannung u. -entspannung,
das Zumballlaufen, eins, zwei, das Fangen, das Indieknie-

gehen, das Abstoßen, das Abspringen, den Sprungzylinder,
das Nachhintenfallen, Gleichgewicht u. Ungleichgewicht,
Winkelstellungen von Schulter, Armbeuge u. Handgelenk,
das Strecken des Arms, das Klappen des Handgelenks, das

Aufkommen, das heil Ankommen, das Aufkommen auf die
Füße anderer, die Verletzungen, die absichtlich zugefügten,
die Würfe ohne Ball, jenseits des Sports, in Richtung irgend-
einer Baumkrone vielleicht, das Rückwärtsrotieren imaginärer

Bälle, die Frage, ob das Muskelgedächtnis die Kompetenz
zur Demenz besitzt, wie das Gedächtnis, das Vergessen,
das an die Form des Erinnerns Erinnernde, die Hypochondrie,
die Freud neben die Neurasthenie u. die Angstneurose stellt

als dritte Aktualneurose, aber kaum bespricht, u. das alles,
weil mein rechtes Knie braun ist, mein kaputtes rechtes Knie.
Es fällt mir ein, es könnte Sonnenbrand sein. Wenn eher das
linke Bein über dem rechten liegt u. die Sonne von oben

links nach unten auf das rechte Knie strahlt. Aber wir haben
schon Herbst, u. im Herbst laufe ich nicht mit kurzen Hosen
herum. Es muss ein hartnäckiger Sonnenbrand sein. Was wollte
ich eigentlich sagen? Ach ja, die Hiobspost, das Provisorium,

das bald’ge Sterben. Ob er danach u. während wie davor noch schreiben
können würde, u. wenn, dann wie? Wenn nicht, dann wer? Kann
sein, dass ich ihm nicht verzeihen werde, dass ich davor geschrieben
haben würde, kann sein auch, dass er mir, was ich davor geschrieben

haben werde, niemals verzeihen wird. Kann sein, dass traurigem
Bewusstsein alles Verständnis für seine fröhliche Vergangenheit
voller Begierde fehlen wird. Kann sein, dass Morphium das Leben
töten wird, bevor es sich selbst tötet. Begrabt mich doch einfach

auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Vom Eingang führt ein Weg
nach rechts zu ihm. Es gäbe noch Platz, um Kopf an Kopf zu ruh’n
in Ruhe, u. verzeiht mir meine Wetterfühligkeit, die eine laubschende –
Vordtriede lautet der seltsame Name des Erfinders dieses seltsamen Worts

die eine laubschende Jahreszeitfühligkeit ist. Aber begrabt mich
auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, am besten in seinem Kopf.

 

Aus: „was Petersilie über die Seele weiß“, Gedichte, Schöffling & Co., Frankfurt a. M. 2020

Erstellungsdatum: 01.08.2024