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„Blue Velvet“ von David Lynch

Mit Gewalt ins Unbewusste

Marli Feldvoß


Isabella Rosselini in „Blue Velvet“ von David Lynch. Pressefoto

Als David Lynchs Film „Blue Velvet“ in die Kinos kam, musste man ihn gesehen haben, und einige Szenen daraus blieben einem auch für immer im Gedächtnis. Warum? Es war vielleicht die parodistische Überführung ins Künstliche, das die vorgeführte Fröhlichkeit und Harmonie der Anfangspassage denunzierte: Da war alles falsch. Der Film löste auch Kontroversen aus, schließlich war er Kult. Nicht für Marli Feldvoß.

 

Blauer Samt ist nur ein Stück Stoff, schillernd, auf modische Art zerknittert, ein wenig schäbig. Erst wenn die Phantasie losgelassen wird, kann er seine Metamorphosen entfalten. Dann lässt er sich verheißungsvoll wallend in einen Theatervorhang verwandeln oder mit einem Hauch von verkommener Traurigkeit in einen Schlager aus den fünfziger Jahren hüllen oder gar zum Fetisch machen, einen abgerissenen Stoff-Fetzen, der sado-masochistische Liebesspiele zu Todesspiralen steigert. Der Verwandlungsspielraum des Materials trifft sich mit der Bedeutungsbreite der Farbe Blau: sie steht für das Introvertierte, Schwermütige, Ängstliche, Mutlose, Unanständige. In seinem Film „Blue Velvet“ schöpft der amerikanische Regisseur David Lynch das vorgefundene Reservoir voll aus, ohne die Herkunft dieser blauen Farbtupfer zu verleugnen: aus dem Tal der künstlichen Tränen.

„It’s a strange world“, heißt das Losungswort – eine seltsam fremde Welt bis zuletzt. Der Standpunkt der Unschuld scheint in der amerikanischen Kleinstadt Lumberton vorherrschend zu sein, die mit leuchtenden Postkartenansichten aus einer künstlich heilen Welt ins Bild gesetzt wird. Freundlichkeit und Harmlosigkeit überall. Der Schrecken hat hier keinen Platz, Mord und Totschlag oder niedere Gefühle, sie gehören in das Reich der Phantasie. Schon der Schlaganfall des Familienvaters beim Sprengen des Rasens stört die penetrante Harmonie. Der schwere Körper bleibt hilflos am Boden liegen, wie ein obszöner Schandfleck im Garten Eden.

Aber jetzt schlägt für den Sohn Jeffrey (Kyle MacLachlan) die Stunde. Mit der Übernahme der Geschäfte seines Vaters fängt er an, sich selbständig zu machen. Der geheimnisvolle Fund eines abgeschnittenen menschlichen Ohres weckt dazu noch seine kriminalistische Neugierde und bringt ihm gleich die Bekanntschaft von zwei Frauen ein, der scheuen blonden Sandy (Laura Dern), eines Polizisten Tochter, sowie der skandalumwitterten dunkelhaarigen Nachtclubsängerin Dorothy (Isabella Rossellini). Sandy wird zur Beraterin auf der Spurensuche, die ältere Dorothy zur Lehrmeisterin in Liebesdingen. Der bisher unerfahrene Jeffrey macht Fortschritte in jeder Hinsicht, vor allem aber in der Kenntnis sado-masochistischer Liebespraxis.

Dass Jeffrey auch selber genussvoll zuschlagen kann und zusammengeschlagen wird, dass er wie die unergründliche Dorothy Täter- und Opferrolle am eigenen Leib erfährt – damit steuert Lynchs Reise „unter die Oberfläche der amerikanischen Provinz“ schon auf ihren Höhepunkt zu. Warum sich das unbedingt in der herbeigeträumten Kleinstadtidylle von Lynchs Jugend oder auch in den fünfziger Jahren abspielen muss, ist wohl allein den pubertären Moden unserer Zeit zuzurechnen. Das Maß zeitkritischer Distanz überzeugt nicht. Übrig bleibt allein das Gewicht obsessioneller Schaulust, die spektakulär und spekulativ bedient wird.

Dem Geheimnis auf der Spur, das damals noch Sexualität hieß – insoweit stimmt die Neugierde des jungen Jeffrey, aber dann verliert sich die Geschichte genüsslich in einem erotischen Tagtraum. Die als Anreiz dienenden verrätselten „schwarzen“ Versatzstücke werden nur als Suspense-Träger benutzt, vor allem aber, um das Böse in Gestalt des gewalttätigen Frank (Dennis Hopper) einzuführen. Seine polymorph-perverse Liebespraxis, die aus der Voyeurperspektive Jeffreys beobachtet wird, erscheint als tierisch, erniedrigend, abstoßend. Der Kennerblick der achtziger Jahre vermischt sich auf merkwürdige Weise mit dem naiven Verständnis der fünfziger. Denn die unbegrenzte Begierde wird zugleich der strengen Zensur der Verteufelung unterworfen. Was sich so ungehemmt dem voyeuristischen Blick darbietet, wird schnell wieder stigmatisiert. Die Gesetzlosigkeit, die sich in erotischen Entgrenzungen zu entfalten droht, wird gleich mit Wertungen gebannt.

Lynch versteht es, mit solchen Verlockungen ins Verbotene zu verwirren, die dadurch noch gesteigert werden, dass die ganze Geschichte mit symbolhaft überfrachteten Bildern und mit erotischen Assoziationen arbeitet, sich ganz jene „blauen“ Stimmungen zu eigen macht, die einer fetischisierten Phantasie entspringen. Die vielleicht beabsichtigte und manchmal spürbare Ironie scheitert an der Künstlichkeit der Bilder, an der Beharrlichkeit der Klischees und an der unterschwellig fühlbaren naiven Sehnsucht nach den einfachen Seelenzuständen der fünfziger Jahre. Mit dieser modisch gefragten Mischung ist der Film „Blue Velvet“ selbst ein zu kostbarer Konsumfetisch, als dass er noch Fragen jenseits des Lustprinzips aufwerfen könnte.

 

 

 

Erstveröffentlichung: FAZ 13. Februar 1987

Siehe auch: Erinnerungen an David Lynch

Erstellungsdatum: 22.01.2025