Schlimm genug, wenn Vernunft und Gefühl aus der Balance geraten, das manipulierbare Gefühl sich gegen die kalte Vernunft abschließt und umgekehrt. Wenn aber beides außer Kraft gesetzt wird und die Hetze zum Verbrechen führt, herrscht Terror. Nun sind die Urteile der französischen Gerichte zur islamistischen Propaganda und den daraus folgenden Morden gefallen. Die Bedrohungssituation an den Schulen ist damit nicht beendet, auch an den deutschen nicht. Jutta Roitsch berichtet.
„Die Lehrer haben Angst.“ Vor allem in Frankreich, wo in den letzten vier Jahren die beiden Lehrer Samuel Paty und Dominique Bernard vor der Schule und auf dem Schulhof brutal ermordet wurden: Vor einem Jahr (März 2023) stellte das französische Meinungsforschungsinstitut Ifop fest, dass einer von fünf Pädagogen Drohungen und religiöse Aggression erlebt habe. In der nordfranzösischen Stadt Lille verurteilte Mitte Dezember ein Gericht eine 18jährige Berufsschülerin zu vier Monaten mit Bewährung und einem Sozialpraktikum, weil sie eine Lehrerin geohrfeigt und sich geweigert hatte, in der Schule ihr Kopftuch abzunehmen und der Lehrerin ihren Namen zu nennen. Aber nicht nur dort ist das Verhältnis von Lehrer- und Schülerschaft gestört: „Angst“ steht auch in einem Brandbrief aus der Friedrich-Bergius-Schule im bürgerlichen Berliner Bezirk Friedenau. Ende November klagten Lehrkräfte, von ihren Schülerinnen und Schülern bedroht und eingeschüchtert zu werden. Unterricht sei in dieser Mittelschule (Klasse 7 bis 10) kaum noch möglich. Sind das noch Einzelfälle?
Über verbreitete Ängste, eine Selbstzensur bei den Unterrichtsthemen und eine gewisse Schockstarre in der französischen Schulwelt berichten die beiden Schulforscher Ismail Ferhat und Sébastian Ledoux in ihrer jetzt veröffentlichten Studie „Une école sous le choc?“ Die Lehrerschaft, das belegen sie eindrucksvoll, fühlt sich seit den Morden an ihren beiden Kollegen allein und im Stich gelassen: von den Schulleitern, den vorgesetzten Akademien und dem nationalen Ministerium, in dem in den letzten beiden Jahren fünf Ministerinnen und Minister weder für eine Linie noch für einen entschiedenen politischen Schutz und pädagogische Freiheit sorgten.
Und in dieser Zeit der Unsicherheit versuchte in Paris ein Spezialgericht für Terrorismus vom 4. November bis zum 20. Dezember 2024 herauszufinden, wie es am 16. Oktober 2020 zu der Enthauptung von Samuel Paty durch den 18jährigen islamistischen Tschetschenen Abdoullakh Anzorov kommen konnte: Eine schwierige Aufgabe für den Vorsitzenden Richter Franck Zientara, denn bereits vor einem Jahr stand die Schülerin Z. vor einem Jugendgericht. Sie hatte vor ihren Eltern den zweitägigen Schulverweis wegen Schwänzens und ungebührlichen Verhaltens vertuscht, indem sie ihnen die Lüge auftischte, Paty habe in seinem Kurs muslimische Schüler, vor allem sie persönlich, diskriminiert und Bilder vom nackten Propheten Mohammed gezeigt. An seiner Unterrichtseinheit zum Thema „Meinungsfreiheit“ angesichts des gerade in Paris laufenden Charlie Hebdo-Prozesses gegen die Mörder hatte Z. überhaupt nicht teilgenommen. Mit ihrer Lügengeschichte aber, für die sie vor einem Jahr eine kurze Bewährungsstrafe erhalten hat, begann ihr Vater Brahim Chnina (52) eine beispiellose Hass- und Hetzkampagne im Netz, begleitet und unterstützt von Abdelhakim Sefrioui (65), einem selbsternannten Imam und militanten Hamas-Vertreter.
Für die beiden jetzt Angeklagten und sechs weitere, darunter zwei Freunde Anzorovs, galt es zu klären, ob und wie weit „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ (Association de malfaiteurs terroriste) eigentlich geht: Die beiden Freunde erhielten als „Mordkomplizen“ je 16 Jahre Haft, weil sie von Anzorovs islamistischer Radikalisierung wussten, ohne irgendetwas dagegen zu unternehmen, ihn zum Kauf von Waffen wie Messer begleiteten und ihn schließlich am 16. Oktober 2020 im Auto zu Patys Schule fuhren. Von der Ermordung und Enthauptung Patys auf offener Straße schickte Anzorov beiden sein Video, das noch wochenlang im Netz zu sehen war.
Für den Vater der Schülerin Z., die inzwischen unter einem anderen Namen an einer anderen Schule ihren Abschluss macht, und den Hamas-Aktivisten hatte das Gericht erstmals in der französischen Justizgeschichte zu klären, wie weit Hetz- und Hasskampagnen im Netz zu Mordtaten aufstacheln (können): Neun Tage vor der Tötung Patys hatten der Vater und der Aktivist zusammen mit Tochter Z. ein Video vor der Schule gedreht, in dem Z. ihre Lügengeschichte von der Diskriminierung der muslimischen Schüler und der Beleidigung des Propheten Mohammed durch Samuel Paty wiederholte. Gefordert wurde mit pathetischer Gottesbeschwörung eine Bestrafung dieses „Gauners“ und seine Entfernung aus dem Schuldienst. Im Netz sorgte dieses Video mit vollem Namen des Lehrers und der Schule für größte Verbreitung, nicht nur bis zu dem Tschetschenen Anzorov, sondern auch mit Tausenden von Klicks bis in führende Moscheekreise.
Zu keinem Zeitpunkt war Z.s Vater bereit, die Lügengeschichte seiner Tochter zu widerrufen, obwohl die Schulleiterin ihm und dem Hamas-Aktivisten in einem lautstarken und aggressiven Gespräch in ihrem Büro die wahren Gründe für den Schulverweis erklärt hatte. Im Gegenteil: Zwischen dem 7. und dem 16. Oktober 2020 blieb Chnina in neun Mails mit dem jungen Tschetschenen bei seinen Vorwürfen, seine Tochter sei von Paty diskriminiert, der Prophet beleidigt worden. Im Prozess, den in „Le Monde“ Soren Seelow aufmerksam und kontinuierlich begleitete, ließ sich dieser Vater von seiner Anwältin (einer von dreien) als fürsorglicher „Papa Poule“ darstellen, der sich stets schützend vor seine damals 13jährige Tochter gestellt und ihr alles geglaubt habe, auch wenn sie in der Schule „Unsinn“ gemacht habe. Als Zeugin, im Habitus einer französischen, nicht-muslimischen Jugendlichen ihres Alters, rang sich Z. bei ihrer Vernehmung eine magere Entschuldigung ohne erkennbares Schuldgefühl für ihre Lügen ab (eindrucksvolle, gezeichnete Gerichtsreportagen sind in Charlie Hebdo vom 4. und 11. Dezember nachzulesen).
Die Videos, die Hass-Botschaften im Netz, die WhatsApp-Nachrichten, die Chnina und Sefroui verbreiteten, wertete das Gericht mit der Staatsanwaltschaft als Aufforderung zur Gewalt, die der radikalisierte Anzorov für sich als eine Erlaubnis zum Töten verstehen konnte. Und verstand, da ihn im Netz zusätzlich eine „Dschihadistenszene“ anfeuerte (zu ihr gehörten vier weitere, ebenfalls zu Haftstrafen verurteilte Angeklagte).
Das Gericht verurteilte Brahim Chnina zu 13 Jahren, Abdelhakim Sefroui zu 15 Jahren Haft. Letzterer, der im Gegensatz zu Chnina keinen persönlichen Kontakt zu Anzorov hatte, sieht sich als Opfer einer islamfeindlichen französischen Politik und nutzte die Bühne des Gerichts, in einer zehnstündigen Vernehmung auf Meinungsfreiheit für den Islamismus zu pochen. Sein Anwalt Vincent Brengarth kündigte an, gegen dieses Urteil, das er ein „politisches“ nannte, in die Berufung zu gehen. Nach dem Tumulten im Gerichtssaal durch empörte und wütende Angehörige der acht Angeklagten ist davon auszugehen, dass dieser Prozess nicht der letzte Prozess war, um die Hintergründe der Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty aufzuhellen und Hetz- wie Hasskampagnen im Internet, die zu einer Enthauptung auf offener Straße führten, juristisch zu bewerten.
Nach beiden Prozessen bleibt ein bitterer Beigeschmack. Er betrifft die Schulwelt. Als Zeugen traten in Paris die ehemalige Schulleiterin Audrey F. und Jeff T., ein Kollege Patys auf (Le Monde vom 14. und 15. November). Sie bestätigten erschreckend deutlich die Studie der beiden Schulforscher und die akribische Nachzeichnung der Ereignisse durch Mickaelle Paty in dem Buch „Le cours de monsieur Paty“ (zusammen mit der Schriftstellerin Émilie Frèche). Das Handlungsmotiv der beiden : „Pas de vagues“, nur ja keine Unruhe, nach innen im Schulkollegium wie nach außen in Richtung Elternschaft, Medien und Administration. Nach dem drohenden und lautstarken Auftreten von Chnina und Sefrioui in ihrem Büro an jenem 7. Oktober 2020 unternahm die Schulleiterin nur das Allernötigste, um vorgesetzte Behörden von dem Vorfall zu informieren. Sie setzte auf eine allseitige Beruhigung in den bevorstehenden Herbstferien, erkannte die Sprengkraft des Videos und der Hassbotschaften im Netz erst zu spät. Mit seiner zunehmenden Unsicherheit und Angst blieb der Lehrer Paty allein.
Der Geschichtslehrer Jeff T. wiederum gehört nach den Studien und Befragungen der Schulforscher in die Gruppe derjenigen Pädagogen, die der zunehmenden Aggressivität unter muslimischen Schülerinnen und Schülern mit Selbstzensur begegnen: Laizität, Meinungsfreiheit und die Vorschriften im offiziellen Lehrplan nach Éduscol seien ja schön und gut, aber müssten denn im Unterricht die drastischen Karikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt werden? Die Chats des Lehrers Jeff T. im schulinternen Netz, dokumentiert in dem Buch von Patys Schwester Mickaelle, sprechen eine eindeutige Sprache: Dieser Kollege stellte im Kollegium Paty in einer Art und Weise bloß, dass man sich fragt, was für einen Unterricht in Moral und Bürgerkunde denn dieser Geschichts- und Ethiklehrer macht. Zerknirscht räumte Jeff T. vor Gericht ein: Hätte er gewusst, was alles passieren würde, hätte er sich nicht so drastisch und genervt von seinem Kollegen distanziert. Zu viele Konjunktive, mit dem das heutige Kollegium in der Schule in Conflans, die jetzt Patys Namen trägt, fertig werden muss: Sowohl die Schulleiterin Audrey F. als auch der Geschichtslehrer Jeff T. haben sich an andere Schulen versetzen lassen.
Aber auch auf den nächsten Ebenen im französischen Schulsystem herrschte wenig alarmierte Beunruhigung, obwohl der Hamas-Aktivist Sefrioui unter der Beobachtung der Terrorismusabteilungen stand. Aus der Bürokratie bis hinauf in die Ministerien musste sich allerdings niemand vor dem Spezialgericht verantworten. Alle Zuständigen hüllten und hüllen sich in Schweigen: Seit zwei Jahren warten Mickaelle Paty und ihre Anwältin Virginie Le Roy auf Antworten aus dem Erziehungs- und Innenministerium, beklagt von ihnen wegen unterlassener Hilfeleistungen. Ob sie angesichts der Regierungskrisen in ihrem Land je eine Antwort bekommen werden? Von Elisabeth Borne vielleicht, der früheren Premierministerin, die nun als die Nummer zwei im Protokoll ins Nationale Erziehungsministerium eingezogen ist? Die verunsicherten Lehrerinnen und Lehrer warten darauf: Samuel Patys Porträt hängt in vielen Schulen zwischen Lille und Marseille.
Der Beitrag wurde zuerst in „bruchstücke“ veröffentlicht.
Erstellungsdatum: 06.01.2025