Der antike Geschichtsschreiber Tacitus schilderte die Germanen als wilde Völker mit befremdlichen Eigenschaften, wie er sie in der Literatur gefunden hatte. Auch Madame de Staël beschrieb, deutlich freundlicher, den Nationalcharakter der Deutschen, auf dessen kulturelles Potential sie Wilhelm von Humboldt hingewiesen hatte. Und was meinte Anton Bruckner im Programm zum Scherzo seiner 8. Sinfonie mit dem „deutschen Michel“, der ins Land hinaus träume? So sind sie eben, die Deutschen, Franzosen, Engländer, Italiener. Thomas Rothschild sieht auf Urteil und Vorurteil.
Der Witz geht so: Zwei Bauarbeiter versuchen auf der Wiener Höhenstraße einen Stein von der Fahrbahn auf die Seite zu schaffen. Sie fassen ihn an, er ist schwer, sie lassen ihn fallen, packen ihr Gabelfrühstück aus, essen eine Knackwurst, trinken ein Bier. Dann versuchen sie es noch einmal, geben auf, rauchen eine Zigarette. So geht das zwei Stunden lang. Ein Deutscher, der die beiden beobachtet hat, geht zu dem Stein, hebt ihn auf, legt ihn an den Straßenrand. Da sagt der eine Österreicher zum anderen: „Na ja, mit Gewalt...“
Dieser Witz reizt zum Lachen, weil er in der Nussschale zu offenbaren scheint, was wir über den Unterschied von Deutschen und Österreichern zu wissen meinen: Die Österreicher sind träge, Arbeit ist ihre Sache nicht, sie machen es sich bequem. Die Deutschen hingegen sind tüchtig, sie packen an, wo Not am Mann ist.
Entspricht das der Wirklichkeit? Wohl nicht in dieser Verallgemeinerung. Nach unserer Erfahrung gibt es tatkräftige Österreicher und faule Deutsche. Und doch muss es einen Grund haben, dass sich die Klischees so hartnäckig und über Jahrhunderte hinweg halten. Wir glauben, benennen zu können, wie sich der typische Franzose, Engländer, Amerikaner oder Russe in einer bestimmten Situation verhält. Wir kennen, was man den „Nationalcharakter“ nennt.
Gibt es ihn tatsächlich, oder beruht er auf einem völlig unbegründeten Vorurteil?
So viel steht fest: Wenn der Nationalcharakter wirklich existiert, so kann er nicht in den Genen gespeichert sein. Er kann allenfalls ein statistischer Wert sein, will sagen: man trifft ihn nicht in jedem einzelnen Individuum an, sondern er kommt bei einer Nation häufiger vor als bei einer anderen, ist dort auffälliger als anderswo und kann daher als Differenzierungsmerkmal dienen, wenn man von der Nation im Ganzen spricht. Nicht „der Franzose“ isst Baguette, aber viele Franzosen tun es, mehr jedenfalls als Italiener oder Tschechen. Nicht „der Spanier“ unterhält sich mit seinem Gesprächspartner lauter als ein Schwede, aber viele tun es.
Wenn es nicht an den Genen liegt – woher kommen die Züge, die einem Nationalcharakter zugeschrieben werden? Man gerät schon deshalb schnell in Schwierigkeiten, weil Nationen keine festen Gebilde sind. Gab es einen österreichischen Nationalcharakter innerhalb der Grenzen der Habsburgermonarchie, und löste er sich 1918 in jenen Gebieten schlagartig auf, die heute zu Ungarn, Tschechien oder Kroatien gehören? Gab es einen sowjetischen Nationalcharakter? Und wie sieht es mit den Vereinigten Staaten von Amerika aus? Eine deutsche Nation gibt es erst seit 1871. Streng genommen ist, was heute als in weiten Teilen der Welt als deutscher Nationalcharakter wahrgenommen wird, preußischen Ursprungs.
Mit zumindest dem gleichen Recht, mit dem man von einem Nationalcharakter spricht, könnte man einen Regionalcharakter oder einen Lokalcharakter postulieren. Die Bayern unterscheiden sich von den Rheinländern nicht weniger als von den Österreichern und die Vorarlberger von den Burgenländern nicht weniger als von den Schweizern. Der „typische Wiener“ ist in unserer Vorstellung ebenso scharf profiliert wie der „typische Berliner“, die „typische Pariserin“ ebenso wie der „typische New Yorker“.
Die Schotten gelten als sparsam oder, weniger freundlich, als geizig. Wer jemals in Schottland war, weiß, dass man dort eher auf Gastfreundschaft und Freigebigkeit trifft als auf Geiz. Aber der wahre Kern des Klischees verdankt sich der historischen Tatsache, dass Schottland, jedenfalls bis zur Entdeckung seiner Erdölvorkommen, der ärmste Teil des Vereinigten Königreichs war, dass die Bewohner des dünn besiedelten, kaum industrialisierten Gebiets wenig besaßen und deshalb sparsam sein mussten. Der sogenannte Nationalcharakter ist das Ergebnis der nationalen Geschichte.
Der brave Soldat Schwejk gilt als Inkarnation des böhmischen Nationalcharakters. Das ist natürlich ebenso Unsinn – oder sagen wir: eine Vereinfachung –, wie wenn man den Herrn Karl als österreichischen oder Rasputin als russischen Nationalcharakter interpretiert. Richtig ist, dass die Eigenschaften, mit denen Jaroslav Hašek seinen plebejischen Helden ausgestattet hat, ihre historischen Wurzeln in der Situation der Tschechen innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie haben. So betrachtet ist Schwejk ebenso „böhmisch“, wie Peer Gynt „norwegisch“ ist, wie Philip Roths oder Woody Allens Protagonisten „jüdisch“ sind. Die Geschichte hinterlässt ihre Spuren nicht nur im Personal des wirklichen Lebens, sondern auch der Künste.
Was sich am Nationalcharakter objektivieren lässt, schlägt sich oft auch in der Sprache nieder. Dem englischen „Common Sense“ entspricht im Deutschen der „Gesunde Menschenverstand“. Was also für die Engländer „allgemein“, im Gegensatz zu „speziell“, ist, bezeichnen die Deutschen als „gesund“ im Gegensatz zu „krank“. Will sagen: wer nicht übereinstimmt mit dem, was der Allgemeinheit plausibel escheint, dessen Verstand ist krank. Von hier bis zur „entarteten Kunst“ ist es nur ein Schritt. Im Deutschen gibt es das Sprichwort: „Mit Wölfen muss man heulen.“ Die englische Entsprechung lautet: „When in Rome do like the Romans.“ Ein signifikanter Unterschied. Während die deutsche Version zur opportunistischen Anpassung an den Stärkeren rät, empfiehlt die englische Fassung die bescheidene Unterordnung an die etablierten Gepflogenheiten. Manche Redewendungen sind auch unübersetzbar. Liegt es am Nationalcharakter? Für den „acquired taste“ der Engländer gibt es im Deutschen keine Entsprechung, und die schöne russische Begrüßungsformel „skol‘ko zim, skol‘ko let“ – „wie viele Winter, wie viele Sommer“ - bei einem Wiedersehen nach langer Zeit lässt sich in deutscher Sprache nur umständlich umschreiben. Es sind solche sprachlichen Eigenheiten, die auch der Literatur ihre nationalen Züge verleihen und die bei Übersetzungen oft verloren gehen.
Die Soziologie spricht von Auto- und Heterostereotyp, vom Bild, das sich ein Individuum oder eine Gruppe von sich selbst oder von anderen macht. Problematisch wird es, wenn Heterostereotype negativ oder sogar aggressiv ausfallen. Es ist diese Erfahrung, die im Dritten Reich virulent geworden ist, was die Konzeption des Nationalcharakters und die Völkerpsychologie, die mit dieser Konzeption operiert, in Deutschland nach 1945 unter Generalverdacht gestellt hat. Sie wurden, nicht ohne Grund, in die Nähe des Rassismus gerückt, der im Kontext der deutschen Geschichte ein anderes Gewicht hat als anderswo. Zu Recht reagiert man empfindlich, „politisch korrekt“, wenn Witze über den angeblichen Charakter fremder Nationen gemacht werden. Nicht immer fallen sie so harmlos aus wie am Anfang dieses Artikels.
Weltmeister in der gehäuften Ausscheidung von Pauschalurteilen, die bei genauerer Lektüre keiner Überprüfung standhalten, ist Henryk M. Broder. Im Jahr 2010 schrieb er: „Die Deutschen gelten als brav und bieder, sind aber eine wilde Mischung: Monarchisten mit einem Hang zur räterepublikanischen Basisdemokratie. Mit diesem Mix kann man sowohl den Aufstand der 'Wutbürger' gegen Stuttgart 21 erklären wie auch die Begeisterung, die den Guttenbergs entgegenschlägt.“
Ist tatsächlich anzunehmen, dass die Deutschen, die gegen Stuttgart 21 protestieren, mit jenen identisch sind, die sich für die Guttenbergs begeistern? Ist das Kollektiv der Deutschen, das Broder hier rezensiert, nicht vielmehr eine Konstruktion, die nirgends außer in Broders Kopf existiert? Zudem: Sind die Engländer oder die Holländer, wenn wir uns auf diese Ebene der Pauschalisierung begeben, weniger monarchistisch als die Deutschen? Ist der Hang zur Basisdemokratie bei den Schweizern schlechter entwickelt als bei den Deutschen? Und sitzen nicht auch anderswo Teile der Bevölkerung vor dem Fernsehschirm, wenn eine königliche Hochzeit übertragen wird, während andere Teile einen Generalstreik organisieren?
Nur einen Tag nach dem zitierten Erguss lieferte Broder eine weitere Kostprobe seiner völkerpsychologischen Gutachten: „Normale Völker haben ein normales Verhältnis zu Geld. Die Holländer nehmen es mit vollen Händen ein, die Italiener geben es mit vollen Händen aus.
Bei den Deutschen ist es etwas komplizierter. Geiz ist einerseits ‚geil‘, andererseits lassen die Deutschen ihr Geld gerne ‚arbeiten‘, während sie in der Karibik die Sonnenseiten des Lebens genießen.“
Das ist hübsch formuliert, aber ist es auch richtig? Legen Holländer ihr mit vollen Händen eingenommenes Geld nicht an, um es „arbeiten“ zu lassen? Und wenn „die Deutschen“ (alle? die Hälfte? 30 Prozent?) in der Karibik die Sonnenseiten des Lebens genießen – geben sie dann nicht wie „die Italiener“ das Geld mit vollen Händen aus? Und wiederum: Sind die Deutschen, die sich bei Saturn ein Schnäppchen erhoffen, um 1 Euro 29 zu sparen, dieselben wie jene, die am Strand ihren Cocktail schlürfen? Man sieht: Was Broder da behauptet, ist purer Unsinn. Es liest sich gut, stellt griffige Formeln zur Verfügung und pflegt gängige Vorurteile. In diesem Verständnis ist, was man für Nationalcharakter halten könnte, das Ergebnis einer feuilletonistischen Verallgemeinerung, die noch nicht einmal eine Teilwahrheit enthält.
Wenn heute in der kritischen Betrachtung der Europäischen Union immer wieder die Nationen und mit ihnen der Nationalcharakter ins Spiel gebracht werden, so ist das ein Relikt des 19. Jahrhunderts. Tatsache ist, dass offenbar viele Menschen in Europa ein Problem haben, sich mit dem Europa Brüssels zu identifizieren. Auf einer abstrakten Ebene fühlen sie sich, in Abgrenzung zu den USA, Asien oder Afrika, zwar als Europäer, aber zu Hause sind sie anderswo. Man lebt als Großstädter in seiner Stadt oder allenfalls in seiner Region.
Man empfindet sich als Berliner, als Frankfurter, als Stuttgarter, als Dresdener, allenfalls als Hesse oder als Sachse. Das Bedürfnis, sich einem überschaubaren Kollektiv zugehörig zu fühlen, ist offenbar stärker, als man beim Entwurf eines vereinten Europa vorhergesehen hat. Kommt man nach Dortmund, begegnet man, unabhängig von der sozialen Herkunft, ausschließlich Borussia-Anhängern. Wie soll man sich diese kollektive Begeisterung für einen Fußballverein erklären? Es scheint, dass er das integrierende Moment ist, das Europa fehlt. In Abwandlung des Wortes von Wilhelm II. – „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ – könnten die Dortmunder proklamieren: „Ich kenne keine Interessensgruppen mehr, ich kenne nur noch Borussia-Fans.“ Borussia verleiht den Dortmundern, so irrational das scheinen mag, ein Heimatgefühl, das eine größere politische Einheit und Europa ganz gewiss nicht bieten können. In geringerem Ausmaß lässt sich das auch in anderen Städten beobachten. Die Medien am Ort berichten von Siegen und Auszeichnungen lokaler Sportler, Künstler, Wissenschaftler, als hätten sie aktiv zu deren Erfolg beigetragen. Wann liest man schon von einem „schönen Spiel“, einem „sportlichen Ereignis“, wenn die eigene Mannschaft verloren hat? Stattdessen heißt es: „Ganz xxx trauert.“ Wer nicht trauert, wird vom Kollektiv zwangsverpflichtet. Vom Bedürfnis nach Identifikation sind auch die Journalisten erfasst.
Schon wahr: dass dieses Phänomen auch die Nation betrifft, erkennt man an Slogans wie „Wir sind Papst“ oder „Wir sind Weltmeister“. Aber so richtig emotional wird es erst, wenn der engere Umkreis betroffen ist. Es liegt wohl doch am Lokalcharakter.
Gibt es also so etwas wie einen Nationalcharakter? Wenn man ihn bei jedem einzelnen Angehörigen einer Nation anzutreffen erwartet, gewiss nicht. Wenn damit aber gemeint ist, dass sich in der Geschichte bei einer Nation bestimmte Eigenschaften stärker herausgebildet haben als bei anderen, dann durchaus.
Statt das unbesehen zu leugnen, sollte man nach der Erklärung von Zusammenhängen, von Kausalitäten, von historischen Bedingungen streben. Schuldzuweisung und Entlastungsbemühungen, also jedwede Instrumentalisierungsversuche sind bei der Erforschung der Wahrheit schlechte Ratgeber.
Nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind schädlich, sondern die Folgerungen, die möglicherweise aus ihnen gezogen werden. Wenn sich so etwas wie ein Nationalcharakter oder eben ein Regional- oder Lokalcharakter nachweisen lässt, dann ist das weder gut noch böse. Gut oder böse können allenfalls die Folgerungen sein, die man daraus zieht. Sie müssen genau beobachtet und unter Kontrolle gehalten werden. Denn was immer herauskommen mag bei der Suche nach Besonderheiten eines Kollektivs – es muss nicht eine Nation sein: wenn es benutzt wird, um Menschen zu diffamieren, zu demütigen, gar zu verfolgen, dann, spätestens dann müssen die Alarmglocken läuten.
Erstellungsdatum: 30.06.2025