Wenn man davon absieht, dass man von manchen Leuten gar nichts wissen will, hat sich doch ein wenig Kenntnis des Anderen ganz hilfreich im Umgang miteinander erwiesen. Deshalb wirkt eine geforderte Anonymität wie eine soziale Verweigerung, die, wie Thomas Rothschild beschreibt, als Suspense in der Literatur, auf dem Theater und im Film dient, wenn sie nicht gar zum Motiv eskalierender Konflikte mit letalem Ausgang wird.
Nie soll Elsa Lohengrin nach Herkunft und Namen befragen. Seine Identität soll ihr ein Geheimnis bleiben. Und noch Ilsa und Rick haben in Paris vereinbart, niemals nach der Vergangenheit des anderen zu fragen. Wahre Liebe kennt keine Bedingungen. Erst in Casablanca wird Rick erfahren, wer Ilsa eigentlich ist.
Tarnkappen und Masken, Zaubertränke und Verkleidungen dienen der Verhüllung der Identität. Im Märchen oder in der Science Fiction-Literatur, aber nicht nur dort nimmt eine Figur die Gestalt einer anderen, gar eines Tieres oder eines toten Gegenstands an – etwa in Kleists Amphitryon, in Richard Wagners Ring des Nibelungen oder im Märchen vom Froschkönig. Andere literarische Figuren verwandeln sich im Zeitkontinuum und verwandeln sich auch wieder zurück – wie etwa der Alpenkönig in Ferdinand Raimunds Alpenkönig und Menschenfeind oder Zettel in Shakespeares Sommernachtstraum. Hamlet gibt sich den Anschein, als wäre er wahnsinnig, und Recha misstraut ihrer Wahrnehmung, möchte in dem Tempelherren, der sie aus dem Feuer gerettet hat, lieber einen Engel entdecken als jenen, der er tatsächlich ist.
Ödipus will wissen, wer er ist, und fühlt sich, als er es erfährt, als er sehend geworden ist, zur Selbstblendung genötigt. Elektra wähnt sich am Ziel ihrer Rachewünsche, als sie im Fremden ihren tot geglaubten Bruder Orest erkennt. Ein Muttermal verrät der Mutter, dass Figaro ihr Sohn ist, und befreit diesen von einer lästigen Heiratsverpflichtung.
Die Frage nach der Identität des Anderen und nach der eigenen Identität zieht sich durch die Literaturgeschichte. Mit vielerlei Techniken wird ihre Beantwortung hinausgezögert, um das Vergnügen der Spannung zu gewährleisten. Wenn dann das Geheimnis der Identität schließlich gelüftet wird – whodunit? wer ist der Mörder? wer verbirgt sich hinter jener Fassade? wer bin ich selbst in Wahrheit, wer war ich und wer werde ich sein? –, wenn das Rätsel gelöst ist, kommt die Geschichte zum Stillstand. Die Zweifel sind beseitigt, die Gewissheit der Ordnung ist (wieder) hergestellt.
Mit den genannten Figuren verwandt sind jene, deren Identität in verschiedene soziale Rollen zerfällt. Für sie selbst, in ihrem eigenen Bewusstsein, ist die Identität nicht in Frage gestellt. Die Anderen aber nehmen sie unterschiedlich, nämlich in ihren jeweiligen Rollen wahr. Exemplarisch wird diese Situation in Orson Welles’ Filmklassiker Citizen Kane durchgespielt. Dass der alte, vereinsamte Zeitungstycoon identisch ist mit jenem Knaben, der einst mit dem Schlitten gegen seinen Vormund rebelliert hat, ist für Kane selbst kein Problem. Dass der Reporter aber scheitert, wenn er, vom letzten Wort des Sterbenden, „Rosebud“, ausgehend durch mehrere Befragungen herausfinden möchte, wer Kane wirklich war, liegt daran, dass dieser für jeden, dem er im Lauf seines Lebens begegnet ist, ein Anderer war wie Isak Borg in Ingmar Bergmans Wilden Erdbeeren. Die diversen sozialen Rollen lassen sich – scheinbar – nicht zu einer definierbaren Identität zusammenfügen.
Als Variante dieses Falls könnte man Brechts Puntila interpretieren, der, vergleichbar Doktor Jekyll alias Mister Hyde, ein je Anderer zu sein scheint, je nachdem ob er gerade betrunken oder nüchtern ist.
Das biographische Muster, das vielen literarischen Werken – auch dem Citizen Kane und den Wilden Erdbeeren – zugrunde liegt, setzt eine Kontinuität der Identität voraus. Dass der Körper sich ständig verändert, dass Zellen abgebaut und durch andere ersetzt werden, dass Haare und Zähne verloren gehen, wird überlagert durch ein Bewusstsein, das das Individuum, das einmal existiert hat, mit jenem verbindet, das in der Gegenwart existiert.
Zum Problem wird diese Kontinuität, wenn sich ein erzählendes Ich im Rückblick nicht mehr ohne weiteres mit jenem Ich „identifizieren“ kann, das es einmal war. Erkennt sich ein Subjekt in seiner vergangenen Existenz nicht wieder, gilt es als pathologisch. Diese an der Norm gemessen, als Störung des Bewusstseins registrierte Wahrnehmung ist kennzeichnend für jene Abweichung, die mit dem Namen „Schizophrenie“ belegt wird. Dieses Problem nimmt, ganz unpathologisch, gewaltige Ausmaße an in Zeiten des politischen Umbruchs, für die deutschsprachige Literatur konkret in Bezug auf Biographien, die in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen. Exemplarisch hat Christa Wolf diese Problematik gestaltet und artikuliert. Immer wieder fragt sie sich autobiographisch oder in verfremdeter biographischer Form, wie das Ich, das sie einmal war, mit dem Ich, das sie heute ist, in Übereinstimmung gebracht werden kann. Auch Martin Walser trieb diese Frage mehrere Jahre um – und die Art und Weise, in der er sie beantwortete, ist nicht zuletzt verantwortlich für die Missverständnisse und Kontroversen, denen er ausgesetzt war.
Aber die Frage nach der Identität – wir haben es zu Beginn angedeutet – kommt nicht erst in der Moderne auf. Der blonde Eckbert von Ludwig Tieck, 1797 entstanden, handelt auf den ersten Blick von einer Identitätsfindung. Bertha erzählt innerhalb des Rahmens, wie sie das Elternhaus verlassen hat und was ihr daraufhin zugestoßen ist. Es ist die Geschichte eines Erwachsenwerdens, also eine paradigmatische Geschichte der Identitätskonstruktion. Doch diese Binnenerzählung wird konterkariert durch die Rahmenhandlung. Sie beschreibt nichts anderes als den zunehmenden Zweifel Eckberts an der Identität von Menschen, denen er begegnet. Bertha fühlt sich „fast um den Verstand gebracht“, Eckbert verfällt ausdrücklich dem Wahnsinn. Bei Eckbert bleibt die Frage: ist seine identitätsskeptische Wahrnehmung bereits Symptom seines Wahnsinns, oder ist der Wahnsinn Folge der Unbestimmbarkeit von Identität?
Auf der Jagd hat Eckbert seinen Freund Philipp Walther, dem Bertha zuvor ihre Lebensgeschichte erzählt hatte, „ohne zu wissen, was er tat“, mit seiner Armbrust erschossen. Er ahnt eine Bedrohung, die von Walther hätte ausgehen können, seit er von der Schuld Berthas wusste. Diese hatte das Vertrauen einer Alten missbraucht, die sie bei sich aufgenommen hatte, hatte die Wohltäterin bestohlen und den Tod ihres Hundes und ihres wertvollen Vogels zu verantworten. Walther aber hatte den Namen des Hundes genannt, obwohl Bertha ihn in ihrem Bericht nicht erwähnt hatte.
Einige Zeit nach der Ermordung Walthers befreundet sich Eckbert mit dem jungen Ritter Hugo, dem er sich anvertraut. Als es ihm scheint, dass Hugo sich mit einem seiner Gegner über ihn unterhalte, sieht er in Hugo plötzlich Gesicht und Gestalt Walthers. Will sagen: er ist nicht mehr imstande, eine Person zu identifizieren. Zwei Identitäten fließen in seiner Wahrnehmung ineinander. Eckbert beginnt selbst, an seinem Verstand zu zweifeln und flieht. In einer Felsschlucht begegnet er einem Bauern, und auch in diesem erkennt er wiederum Walther. Als er nicht mehr weiß, „ob er jetzt träume oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe“, nähert sich ihm eine „krummgebückte Alte“ und verlangt nach ihrem Vogel, ihren Perlen, ihrem Hund. Und sie fügt hinzu: „Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst: niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo.“ Mehr noch: „Und Bertha war deine Schwester.“
Die Anagnorisis hat stattgefunden. Das Rätsel ist gelöst. Eckbert kann die Lösung nicht ertragen. Er wird wahnsinnig und stirbt. Im Märchenkontext ist die Alte, die verschiedene Gestalten annimmt, um ein ihr zugefügtes Unrecht zu bestrafen, durchaus als konventionell zu interpretieren. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es im Blonden Eckbert unmissverständlich um die Auflösung von Identität in der Wahrnehmung eines Beobachters geht und dass diese Auflösung ursächlich oder als Folge mit Wahnsinn zu tun hat. Sie ist ein individualpsychologisches Phänomen, ein Phänomen des Bewusstseins.
Anders im 20. Jahrhundert. Schon Bertolt Brecht zeigt uns in seinem frühen Stück Mann ist Mann, wie ein Mensch zu einer Kampfmaschine umfunktioniert werden kann. Galy Gay wird, ganz ohne romantische Zauberkräfte, zu Jeraiah Jip, nicht nur in der Wahrnehmung anderer, sondern auch im Bewusstsein von sich selbst. Das Stück, das zunächst als Attacke auf den bürgerlichen Individualismus konzipiert war, geriet Brecht unter dem Eindruck der faschistischen Massenideologie zu einer Anklage gegen die Instrumentalisierung des Menschen, der seiner Identität beraubt wird.
Im Gartenfest von Václav Havel macht Hugo Pludek Karriere in einer Gesellschaft, die unschwer als Parabel auf die Tschechoslowakei der frühen sechziger Jahre entschlüsselt werden kann. Hugo leitet den Eröffnungsdienst und auch das Amt für Auflösung. In rondohafter Form tritt Hugo wiederholt bei seinen Eltern auf, die ihn immer weniger erkennen. Die Bürokratie und ihre formelhafte Sprache haben ihn um seine Identität gebracht. Er funktioniert im Apparat wie Brechts Galy Gay im Krieg. Der Identitätsverlust ist bei Havel – und darüber hinaus: in der Literatur des 20. Jahrhunderts – nicht in erster Linie ein psychologisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Am Ende des Stücks, das gemeinhin dem „Theater des Absurden“ zugerechnet wird, sagt Hugo:
„Ich? Wer ich bin? Wisst ihr, ich habe so einseitig gestellte Fragen nicht gern, wirklich nicht! Kann man denn so einfach fragen? […] Der Mensch ist nichts Festes, Ewiges, Absolutes – der Mensch ist Veränderung, eine kühne Veränderung natürlich! […] Immer sind wir ein bisschen und sind doch immer auch ein bisschen nicht.“ Zuvor hat Hugos Vater ihn gefragt: „Hören Sie mal, und wer sind Sie eigentlich?“ Die Eltern erkennen ihren Sohn nicht mehr. Das System hat seine Identität zerstört. Er ist zu einer Phrasenmaschine geworden, wie Galy Gay zu einer Kampfmaschine. Er wird nicht wahnsinnig, auch seine Eltern werden es nicht. Wahnsinnig ist die Gesellschaft, die zulässt und bewirkt, was Brecht und Havel in ihren Stücken formuliert haben.
Um Identität geht es auch dem österreichischen Dramatiker Felix Mitterer. Es gibt den Witz von den beiden Tirolern, die in der Zeit des Dritten Reichs durch die Straßen Innsbrucks spazieren, und der eine sagt zum anderen: „Ich verstehe diese Juden nicht. Sie haben Bärte wie wir, sie haben große Nasen wie wir – sie bräuchten sich doch nur Lederhosen anzuziehen und einen Tirolerhut aufzusetzen, und man würde sie für Tiroler halten.“ Worauf der andere entgegnet: „Mir wollen Sie Ezzes geben?“
Diesen Grundeinfall hat Felix Mitterer auf der Basis einer wahren Begebenheit ausgesponnen und vereint mit einer allgemeinen ethisch-politischen Frage, die seit langem diskutiert und in Deutschland meist stellvertretend an Gustav Gründgens, in Österreich an Paula Wessely – etwa durch Klaus Mann und Elfriede Jelinek – festgemacht wurde, nämlich nach der Verantwortung des Schauspielers in der Gesellschaft oder konkreter: seiner Schuld durch Gefügigkeit in einem unmenschlichen System oder, wie im Fall von Paula Wesselys Rolle im Film Heimkehr, durch Beteiligung an menschenfeindlicher Propaganda.
Mitterer macht aus der Geschichte des jüdischen Schauspielers, der kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich unter dem Druck der Nazis das Theater verlassen muss und als antisemitischer Tiroler zurückkehrt, um sich, nun ein gefeiertes Naturtalent mit Vorbildcharakter im nationalsozialistischen Sinne, an seinen Gegnern zu rächen, eine Komödie. Dass nur das Publikum die wahre Identität einer Figur kennt, die die anderen, verkleidet, foppt, ist eine erprobte Schwanktechnik. Aus Nestroys Freiheit in Krähwinkel zum Beispiel konnte Mitterer lernen, wie ein derart Maskierter den mächtigeren Gegner mit seinen eigenen Mitteln – in diesem Falle: den Rassenvorurteilen – zur Strecke bringt. Aus Ernst Lubitschs Sein oder Nichtsein konnte er die Idee übernehmen, dass ein Nazi, übertölpelt bei der Suche nach erschwindelter Identität, den Denunzianten anbrüllt. Die Motive der Verwechslung und des Theaters auf dem Theater sind, über Lubitsch hinaus, in dem Genre geläufig.
Wie bei Lubitsch auch, wird Shylocks berühmte Klage über das jüdische Leid für das Stück instrumentalisiert. Am Schluss wird Shylock, den der Schauspieler Kirsch bevorzugt, weil er sich wehrt, der anderen zentralen jüdischen Figur des Theaters gegenübergestellt, Lessings Nathan. Das Resümee: „Keine Rache, kein Vergeben.“
Zum Klischee geraten ist Mitterer lediglich die Figur des hysterischen, mannstollen alternden Stars. (Ach Maria Tura, ach Carole Lomard, was sollte danach noch kommen!) Wie eine Reminiszenz an Stefan Zweigs Brief einer Unbekannten klingt die Klage des zum Tiroler Höllrigl verwandelten Kirsch: „Sie hat mich nicht erkannt.“ Worauf der Direktor antwortet: „Ihre Frau sieht nur sich.“ Unfreiwillige Pointe: Max Ophüls, der Zweigs Erzählung verfilmt hat, wurde einst wegen seines jüdischen Aussehens vom Burgtheater entlassen. Bei Mitterer wird der Antisemit wegen seines angeblich jüdischen Aussehens geschasst.
Erstellungsdatum: 22.06.2025