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Literaturkritik

„Penelopes Weben“

Alexandru Bulucz


Aufgetrennt. Louis Hector Leroux: Penelope (um 1900), Ausschnitt. Foto: wikimedia commons

Als wäre sie für TEXTOR gemacht: Alexandru Bulucz hat in seiner Antrittsvorlesung zur Anna-Vandenhoeck-Gastdozentur für Literaturkritik an der Georg-August-Universität Göttingen seine persönlichen Zugänge zur Literaturkritik beschrieben. Anhand biografischer Verläufe kommen sie nacheinander ins Spiel und summieren sich trotz aller Unterschiede zu einer undogmatischen Haltung, die in der metaphorische Dynamik des Webstuhls zu sich kommt.

 

I

Was war mein erster bewusster Kontakt mit Literaturkritik oder mit Kulturjournalismus im weiteren Sinne? Diese Frage stellte ich mir – neben vielen anderen – im Vorfeld dieser Vorlesung. Die Antwort kam rasch, denn wie so oft bei ersten Begegnungen: Sie hinterlassen Spuren, die bleiben.

Es war im Jahr 2007. Ich war Zwölftklässler am Gymnasium der Gesamtschule im nordhessischen Bad Sooden-Allendorf, unweit von hier, wo ich seit fünf Jahren ein Sportinternat besuchte. Innerhalb kurzer Zeit gelang mir der Wechsel von der Leichtathletik zum Basketball. Ich durfte sogar mit der Zweitligamannschaft der BG Göttingen trainieren. Ich war ein ambitionierter Spieler – und für mich stand außer Frage: Eines Tages würde ich in der NBA spielen. Und wenn nicht dort, dann zumindest in der BBL.

Doch mit den Jahren zeigte sich, dass es für einen Aufbauspieler wie mich nicht genügte, technisch versiert und treffsicher zu sein. Es fehlte an Physis. Der Körper eines Mittelstreckenläufers war in Rumänien – wo ich zuvor trainiert hatte – auf Ausdauer geschult, nicht auf Explosivität. Muskelaufbau spielte dort eine untergeordnete Rolle; die Grundlagen ließen sich später nur schwer nachholen. Der Läufer war auf sich gestellt, kein Mannschaftsspieler. Während langer Trainingsläufe musste er Wege finden, sich in der Monotonie des Tempos geistig abzulenken – weg von der Übersäuerung, weg vom Schmerz, hin zum reinen Willen.

Als Basketballer hingegen wäre es darum gegangen, sich hineinzudenken – in den Ablauf des Spiels, in die Bewegungen der anderen, in die Möglichkeit des entscheidenden Passes. Ich hätte das Aufbauspiel, den Spielmacher in mir, wie einen Schachspieler trainieren müssen: mit der Fähigkeit, fünf oder mehr Züge im Voraus zu sehen.

Doch im Jahr 2007 halfen mir auch keine NBA-Vorbilder mehr – keine wie Stephon Marbury von den New York Knicks, dessen Credo lautete, er werfe nur, wenn er wisse, dass er treffe. Diese Haltung braucht der Basketballer, selbst mit einer Wurfquote von dreißig Prozent. Aber für mich war es zu spät: Ich musste erkennen, dass mein Körper gescheitert war. Der Traum von der NBA – geplatzt.

An die Stelle der Illusion trat die Trauer darüber, dass etwas Neues beginnen musste. Das Abitur stand bevor, eine Entscheidung über den weiteren Weg war fällig. Eines wusste ich: Mit Sport wollte ich nichts mehr zu tun haben. Kein Sportstudium, kein Sportlehrer, kein Physio. Der Körper hatte versagt – also musste der Geist übernehmen. Aus der Affirmation des Körperlichen wurde eine Negation. Die Physis wich der Metaphysis.

Ich begann, mich – zunächst unbewusst – auf das Geistige auszurichten. Ich las, was ich in die Hände bekam, auch die Feuilletons. Und ich erinnere mich noch genau an die Begeisterung, die ein Artikel in mir auslöste – erschienen im Juli 2007 in der Wochenzeitung Die Zeit, verfasst vom Publizisten Georg Diez. Thema war der damals bereits seit zwanzig Jahren tote Schriftsteller und Journalist Jörg Fauser sowie dessen postum veröffentlichtes Romanfragment Die Tournee.

Ich glaube heute zu verstehen, warum mich dieser Text so traf. Gleich im ersten Absatz beschreibt Diez Fauser mit einer „großen, unförmigen Brille“, hinter der dessen Augen „groß und traurig und seltsam leer“ auf die Welt geblickt hätten. Ein Einstieg in eine klassische Mischung aus Porträt und Rezension, zunächst unspektakulär. Doch dann kippt der Ton: Der Autor meldet sich selbst zu Wort – „Es ist diese Leere, die mir fremd ist; es ist diese Leere, um die seine Bücher kreisen.“

Inhaltlich wahrt Diez Distanz, stilistisch jedoch bricht er sie auf – durch die Ich-Perspektive, durch die Pathosformel der Wiederholung. So beginnt die Objektivität zu bröckeln. So beginnt die Identifikation mit dem Gegenstand der Analyse.

Später heißt es über Fauser, er sei
„wohl immer Außenseiter geblieben, ganz egal, weil er eine Wut in sich trug, die echt war, und eine Liebe zur Wahrheit, die in den Worten lag, die verletzlicher sein können als all die Faustschläge, von denen er erzählte. Er war ein toller Schriftsteller, so plump kann man das sagen.“

Echte Wut, Liebe zur Wahrheit – in einer relativistischen Welt sind das Superlative. Derjenige, der sie ausspricht, erhöht den anderen und erniedrigt damit zugleich sich selbst.

Mir scheint, Georg Diez spricht hier über mehr als Jörg Fauser. Er beschreibt ein Ideal, ein noch nicht eingelöstes Selbstbild – und wird von Fauser selbst „gelesen“. Diese Haltung der Demut rührt mich bis heute. Denn großartig ist, wer hinaufschaut, nicht hinab.

Alexandru Bulucz
Über Leben und Literatur
Texte 2013 bis 2025
304 S., geb.
ISBN: 978-3-946392-64-4
Gans Verlag, Berlin 2025
 
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Erstellungsdatum: 13.12.2025