Die „Erfindung“ des Philologen in der Reformation und Nietzsches Humanismus der „klassischen Studien“
Wofür Friedrich Nietzsche nicht alles verantwortlich gemacht wurde! Zum einen, weil seine Rollenprosa und seine Ironie nicht verstanden wurden, zum andern, weil einige seiner Aphorismen von den Nationalsozialisten ideologisch missbraucht wurden. Die Frage, ob er dem Missbrauch Vorschub geleistet hat, stellte sich nicht nur Thomas Mann. Der Philosoph Enno Rudolph geht diesem Vorwurf nach sowie dem Problem mit der Philologie und dem missverstandenen Platon. Wir bringen den großen Essay in zwei Teilen. Hier ist der erste.
Thomas Mann hat sich mehrfach öffentlich über Nietzsche geäußert. Sein im Jahre 1947 im PEN Club Zürich gehaltener Vortrag mit dem Titel Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, den er zuvor in Washington in englischer Sprache präsentiert hatte, nimmt dabei eine Sonderstellung ein: Die Erfahrungswelt, auf die der Vortragstitel anspielt, war deutlich geprägt von der unmittelbar einsetzenden traumatischen Wirkung der zwei Jahre zuvor zu Ende gegangenen Nazi-Herrschaft. Thomas Mann nutzte die Gelegenheit, um die Frage zu diskutieren, ob Nietzsche als ein Vordenker des Nationalsozialismus anzusehen sei, und ob er etwa mit bestimmten charakteristischen Wendungen, Ausdrücken, Begriffen, Parolen oder Lehrstücken, derer die Nazis sich dankbar bedient hatten (Übermensch, Wille zur Macht et. al.), gleichsam eine ideologische Vorarbeit für den deutschen Faschismus geleistet habe: „Schrittmacher“, „Mitschöpfer“ und „Ideensouffleur“ des deutschen, des europäischen und sogar des „Weltfaschismus“ sei er gewesen, so etwa lauteten die aus dem sozialistischen Lager stammenden Verurteilungen, auf die Thomas Mann sich durchaus kritisch bezog, und die bekanntlich bis heute nicht verstummt sind.
Thomas Mann reagiert auf diese unentschiedene Diskussionslage seinerseits mit einer eigentümlichen Ambiguität, wie sie für den Stil des gesamten Vortragstextes und überhaupt für seine Haltung zu Nietzsche, soweit sie darin zutage tritt, charakteristisch ist. Rolf Zimmermann hat eine Reihe einschlägiger Belege zusammengestellt, um verständlich zu machen, wie naheliegend es scheinen könnte, in Nietzsche tatsächlich einen Vordenker des Nazi-Faschismus zu sehen: Isoliert man diese Passagen aus ihrem unmittelbaren Zusammenhang oder liest man sie unabhängig vom Gesamtkontext der Werke Nietzsches, so lässt sich leicht das eindrückliche Profil eines Rasseneugenikers und eines „Vorreiters des arisch- deutschen Herrenmenschen“ zeichnen (Zimmermann 2017, S. 238), allerdings nur über den Weg einer gewaltsamen Selektion. Um einer solchen nicht aufzusitzen, ist es hilfreich, der methodischen Unterscheidung zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ der Textur Nietzsches, wie Zimmermann sie trifft, Rechnung zu tragen, und vor diesem Hintergrund die Widersprüchlichkeit der apodiktisch formulierten Verdikte mit scheinbar absolutem Geltungsanspruch einerseits und der Grundthese von der Geschichtlichkeit der gesamten kulturellen Evolution, wie Nietzsche sie durchgehend vertritt, andererseits aufzulösen. Es ergibt sich, dass zwischen einem integrierenden Potential an Texten und Thesen, die gleichsam durch zentripetales Zusammenwirken das Werkzentrum organisieren, und solchen, die vom Zentrum wegführen, unterschieden werden kann. Vor diesem Hintergrund distanziert Zimmermann sich vorsichtig von Thomas Mann, wenn er gerade solche Passagen, die einen radikalen und zugleich „normativen Bellizismus“ (Zimmermann 2017, S. 243) Nietzsches zu belegen scheinen, und auf die Mann seine Ablehnung von Nietzsches Philosophie gründet, zur Peripherie zählt. Es liegt offenbar in Manns Interesse, Fundstücke, die eine Macht-, Kampf- und Kriegsbegeisterung Nietzsches zum Ausdruck zu bringen scheinen, besonders zu markieren, denn sie bestätigen sein Vorurteil, demzufolge Nietzsches generelles Defizit überhaupt in der Verwerfung von Ethik zugunsten von Ästhetik bestehe: „Der wahre Gegensatz ist der von Ethik und Ästhetik. Nicht die Moral, die Schönheit ist todverbunden, wie viele Dichter gesagt und gesungen haben, – und Nietzsche sollte es nicht wissen?“ (Mann 1948, S. 32–33) Und am Ende des Vortrags resümiert er:
Es gibt zuletzt nur zwei Gesinnungen und innere Haltungen: die ästhetische und die moralische, und der Sozialismus ist streng moralische Weltansicht. Nietzsche dagegen ist der vollkommenste und rettungsloseste Ästhet, den die Geschichte des Geistes kennt [...]: dass nämlich das Leben nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen sei, trifft genauestens auf ihn, sein Leben, sein Denk- und Dichtwerk zu [...]. (Mann 1948, S. 45)
Vor diesem Hintergrund ist der provokante Vergleich Nietzsches mit Oscar Wilde zu sehen, den Mann im Kontext ausführlich anstellt: der Vergleich mit einem prominenten effekthaschenden Dandy hat zweifellos etwas gezielt herabsetzendes, und der Leser des Vortragstextes kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Thomas Mann sich auf diese Weise von dem souveränen Stilisten, dem Herrn der Metapher und dem Autor, der über ein stattliches Ensemble einschlägiger Kompetenzen verfügt – dem Literaten, dem Philologen und dem Philosophen in Personalunion – eine Distanz verschafft, die er benötigt, um nicht seiner Bewunderung zu verfallen. Denn Thomas Mann ringt spürbar ebenso mit der Faszination, die Nietzsche offenbar bei ihm auslöst, wie auch mit dem Wahn, den er bei ihm von früh auf zu diagnostizieren wagt. Sein Fazit fällt entsprechend nüchtern, apodiktisch und für Nietzsche fatal aus: Der krank geborene Philosoph habe die begrifflichen und die ideellen Mittel geliefert, mit denen die Nazis ihre Sprache erheblich anreicherten. Indem Mann den Philosophen zunächst ausdrücklich von den primitiven und barbarischen Facetten des Faschismus freispricht, belastet er ihn zugleich umso mehr: „Unter der Hand bin ich geneigt, hier Ursache und Wirkung umzukehren und nicht zu glauben, dass Nietzsche den Faschismus gemacht hat, sondern der Faschismus ihn“(Mann 1948, S. 39), um sogleich hinzuzufügen:
Alles, was er in letzter Überreiztheit gegen Moral, Humanität, Mitleid, Christentum und für die schöne Ruchlosigkeit, den Krieg, das Böse gesagt hat, war leider geeignet, in der Schund-Ideologie des Fascismus seinen Platz zu finden [...]. Wenn das Wort wahr ist: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, so steht es schlimm um Nietzsche [...]. (Mann 1948, S. 40)
Also doch: eine spezifische Appetenz dieser Philosophie für Propaganda, Vokabular und Rhetorik der Nazis galt für Thomas Mann als erwiesen, und selbst wenn der Faschismus Nietzsche „gemacht“ hat, so heisst das keineswegs, dass die Nazis Nietzsche zum wehrlosen Opfer ihrer ideologischen Ausbeute hergerichtet hätten. Vielmehr bot sich sein Werk an, es erwies sich als geeignet für den Dienst am Faschismus. Die rhetorische Strategie Manns ist bemerkenswert. Es ist schwerlich möglich, verdeckter vorzugehen, um gezielt jemanden zu entlarven, ohne ihn direkt zu bezichtigen. Zimmermann erkennt in dieser Argumentation dennoch das Muster einer Nietzsche-Interpretation, das er als „Kontinuitätsmodell“ bezeichnet, und mit dem sich Manns Auslegung im Umkreis solcher Nietzschedeutungen bewege, „die Nietzsche zum Philosophen des Faschismus oder Nationalsozialismus erklären“ (Zimmermann 2017, S. 227). Es kommt hinzu, dass Mann – bislang offenbar ohne dass dies je auf ihn zurückgefallen wäre – Nietzsche bereits eingangs seiner Ausführungen mit eindrücklicher Prägnanz und nach geschickter Vorbereitung als einen Autor bezeichnet, dessen biographische Entwicklung missdeutet werde, wenn man von einem plötzlichen anfallsartigen Einschnitt – wie weithin mit Bezug auf Nietzsches Zusammenbruch im Jahr 1888 angenommen – ausgehe: Nietzsches Entwicklung sei von Beginn an kontinuierlich durch seine sich allmählich verschlimmernde Krankheit gezeichnet gewesen, und als Autor sei er schließlich zum Niveau eines „sich schmückenden Über-Feuilletonismus entartet“(Mann 1948, S. 18; meine Herv.). Eine gewisse ‚Gassenläufigkeit‘ dieser Vokabel, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausdrücklich auch einmal auf Nietzsche bezogen wurde, mindert keineswegs das Erstaunen darüber, dass der wieder bewillkommnete Meister-Schriftsteller der ersten Reihe den von den Nazis im Zuge einer geradezu ‚feindlichen Übernahme‘ angeeigneten Philosophen mit dieser prekären Vokabel stigmatisiert, nachdem diese durch ihre spezifische Verwendung unter der Naziherrschaft eine besonders makabre Färbung erfahren hatte: Wessen Kunst für ‚entartet‘ erklärt wurde, um den war es – zumindest als Künstler – geschehen, der war und blieb bekanntlich ultimativ geächtet, ausgemustert aus der Kultur und lebendig begraben.
Das Prädikat ‚entartet‘, dessen Verwendung nach 1945 nur als gezielt dem Vokabular des Unmenschen entnommen beurteilt werden kann, rückt den so Markierten in dessen Nähe. Die Verwendung dieser Vokabel, zumal aus der Feder eines maßgeblichen Dichterfürsten, macht deutlich, welcher Aufwand an Rehabilitation notwendig war (und noch ist), sofern man es überhaupt wagen will, dennoch die Rolle eines Anwalts des Philosophen zu übernehmen. Mit nur einer Vokabel wird hier der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Und dieser Vorlauf lässt das Schlussresultat des Vortrags in demselben Zwielicht erscheinen, in dem sich der gesamte Text präsentiert, wenn Thomas Mann resümiert: „Er [Nietzsche] muss es sich gefallen lassen, ein Humanist genannt zu werden, wie er es dulden muss, dass man seine Moralkritik als eine letzte Form der Aufklärung be- greift“(Mann 1948, S. 51). Warum es aber eine Zumutung für Nietzsche wäre, ihn noch irgendwie zum Paradigma der Aufklärung zu zählen, hat er doch an prominenter Stelle – unbeschadet seiner zwar oftmals radikalen und ironischen, aber stets differenzierten Kritik an Idee und Realität der Aufklärung, an ihren Protagonisten, vornehmlich an Kant, an ihrem moralischen Universalismus und an ihrem wissenschaftsgläubigen Triumphalismus – darüber geklagt, dass das „zurückgebliebene deutsche Wesen“ – gemeint ist die mentale Voraussetzung für den ausdrücklich erwähnten Erfolg der Reformation Lutherscher Prägung – die Renaissance um ihre Wirkung gebracht habe, wodurch die „Morgenröthe der Aufklärung“ daran gehindert worden sei, schon früher und „mit schönerem Glanze“ aufgegangen zu sein (MA I 237; KSA 2, S. 200).
Wie immer man es damit hält: wenn man einen hinreichend weit gefassten Begriff von Aufklärung zugrunde legt, wie er etwa in der berühmten Formel Kants zum Ausdruck kommt, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, dann ließe sich Nietzsches ‚freier Geist‘ durchaus als Kandidat für die in der Formel Kants angedeutete Figur des emanzipierten Subjekts denken. Und vor dem Hintergrund einer solchen Kontinuitätsvermutung ließe sich die zuvor zitierte Bemerkung als eine von Nietzsche selbst abgegebene Sympathieerklärung für die Aufklärung deuten. Umso mehr aber erhöht sich damit die Spannung zwischen diesem Befund und den zahlreichen kritischen, teilweise sogar verächtlichen Bemerkungen Nietzsches über die Aufklärungsmoral oder über Kant, über den es einmal heißt: „Ein Moralfanatiker à la Rousseau mit unterirdischer Christlichkeit der Werte“ (KSA 12, 9[3]). Während sich die Diskussion über die Alternative zwischen einer aufklärungskompatiblen und einer nicht aufklärungskompatiblen Deutung von Nietzsches Werk vergleichsweise harmlos gestalten dürfte, bekommt sie im Blick auf die Frage nach einer sachlichen Kontinuität zwischen Nietzsches Positionierungen und dem Menschenbild des Nazi-Faschismus ein dramatisch anderes Gewicht. Hier erweist sich Zimmermanns ‚Differenzmodell‘ als einschlägig, das er dem de facto auch von Thomas Mann vertretenen ‚Kontinuitätsmodell‘ entgegenstellt: Es ist die Differenz zum Faschismus, deren Konturen in Orientierung an diesem Modell nachzuzeichnen wären, um so das ‚Zentrum‘ der Philosophie Nietzsches zum Zuge kommen zu lassen. Zimmermann, der dieser These von einem ‚Zentrum‘ in Nietzsches Werk, das keineswegs mit dem Nazi-Faschismus kompatibel ist, offenbar zuneigt, verteidigt sie allerdings nur zaghaft – vielleicht, weil ihm bewusst ist, dass die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie nicht ohne eine gewisse Arbitrarität zu treffen ist. Gerade hier kommt die Bemerkung Manns zum Zuge, dass Nietzsche sich gefallen zu lassen habe, „ein Humanist genannt zu werden“ (Mann 1948, S. 51): Mann scheint nicht zu sehen, dass er damit ‚offene Türen‘ einrennt. Es ist die erkennbar konstruktive Bezugnahme auf die Humanisten der ersten Stunde, die Nietzsche gleichermaßen von den durch die Reformation neu ‚geborenen‘ wie auch von den zeitgenössischen Philologen, die er beide durch die List der gemeinsamen fachdisziplinären Denomination einer einheitlichen Tradition zuordnet, unterscheidet. Denn sie sind es, die humanistischen Philologen der ersten Stunde, die an der Weiterführung ihres Projekts gehindert wurden: die paradigmatischen „judices“ und „zensores“ (vgl. dazu Buck 1975) der Texte, die massgeblichen Rezipienten der Antike nach dem Mittelalter, an denen sich auch orientieren dürfte, was Christian Benne unter dem Titel „emphatischer Philologiebegriff“ zusammenfasst (Benne 2014, S. 175 u. 196).
Wer über Nietzsche urteilt, zumal ultimativ, muss um die Vieldeutigkeit wissen, die seiner Wortwahl oftmals eigen sein kann, um die Vielfalt der Perspektiven, die er immer wieder einnimmt, und um den Pluralismus von Bedeutungen, mit dem er – oftmals nur im ‚Subtext‘ – operiert. Analoges gilt tatsächlich bereits in repräsentativer Weise für eine Reihe von maßgeblichen Humanisten wie Petrarca, Pico della Mirandola oder sogar nördlich der Alpen von Erasmus von Rotterdam, allesamt Autoren, die auf den Klaviaturen mehrerer verschiedener Genres spielten: der Poesie, der Rhetorik und der theoretischen Abhandlungen. Fertigkeiten dieser Art kann Nietzsche in höchsten Tönen loben, ohne zu verhehlen, wie sehr er sich ihnen verbunden weiss: denn es waren diese Errungenschaften – wie „der Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft“, oder „die Entfesselung des Individuums“ –, die sich diesen Fertigkeiten verdankten, und die die Epoche der Renaissance zum „goldene[n] Zeitalter“ machten (MA I 237; KSA 2, S. 199). Und es sind – neben anderen – diese Kompetenzen, die der Bewegung gutgeschrieben werden, durch die das Zeitalter der Renaissance ihr authentisches Epochenprofil erhielt, und die seit Friedrich Immanuel Niethammer unter dem Titel „Humanismus“ geführt wird. Der Name lässt sich legitimieren als die Synthese aus drei historischen Innovationen der nachmittelalterlichen Zeit auf den Gebieten der Bildung und der Literatur, denen das Prädikat „humanistisch“ gemeinsam ist: an erster Stelle ist zu erinnern an die Etablierung der philologischen Kompetenz des Humanista im 14. Jahrhundert, sodann an eine auffällige Innovation auf dem Feld der literarischen Kultur, nämlich die relativ plötzliche Entstehung einer länder- übergreifend gleichzeitigen publizistischen Beschäftigung mit der Würde des Menschen („Dignitasliteratur“) im Quattrocento, zu der maßgeblich auch die prominente Schrift Oratio de hominis dignitate von Pico della Mirandola gehört. Und parallel zu beidem kann die Einrichtung der studia humanitatis als quantitative und qualitative Erweiterung der artes liberales durch die Poetik, die Geschichtswissenschaft und die Moralphilosophie als das wichtigste Element der begrifflichen Synthese mit dem Titel „Humanismus“ angesehen werden.
Dass Nietzsches Ruf durch den Vollzug der ‚feindlichen Übernahme‘ seitens der Nazis, der sein Werk ausgeliefert war, nachhaltig beschädigt worden war, ist unbestritten. Urteile wie dasjenige von Thomas Mann über die Kontinuität von Nietzsche zum Nazi-Faschismus konnten – in diesem Fall besonders wirkmächtig, weil von einem höchsten Dichter gleichsam ex cathedra verkündet und festgeschrieben – nachhaltig dazu beitragen, dass es nach 1945 dauerhaft bei diesem Stigma blieb. Umso drängender stellt sich – gerade in diesem Zusammenhang – die Frage nach dem spezifischen Profil von Philologie – von Textkritik, Textauslegung und Textedition, sodann von Sprachphilosophie, Rezeptionstheorie und Hermeneutik –, das Nietzsche mit den Humanisten aufgekommen und durch die Reformation jäh abgebrochen sah. Denn verbunden ist damit die weitere Frage, ob er an dieses Paradigma wieder anzuknüpfen beabsichtigte. Im Falle einer positiven Beantwortung dieser Frage ließen sich möglicherweise die Konturen eines spezifisch Nietzscheschen Humanismus nachzeichnen, der dem historischen Paradigma in der Renaissance durch den gemeinsamen ‚harten Kern‘, die Philologie, auffällig nahe stünde, wodurch zugleich der Verdacht einer konzeptionellen Verwandtschaft zwischen Nietzsche und dem Nazi-Faschismus (‚Kontinuitätsthese‘) weiter an Überzeugungskraft verlöre. Die ‚Differenzthese‘ hingegen würde gestärkt werden: der Abstand zwischen einer an Idee und Methode des Renaissance-Humanismus orientierten Philologie einerseits und einer faschismustauglichen Weltanschauungsphilosophie andererseits wäre zu groß.
Die Frage nach Nietzsches Absicht als Philologe, als Rezipient und als Anwalt des Humanismus kann allerdings vermutlich nicht beantwortet werden, ohne die von ihm aufgestellte historische These über Grund und Ursache des Scheiterns der Renaissance genauer zu überprüfen. Die Textlage ermöglicht dazu zwei Hypothesen: Entweder ist die Renaissance am epochalen Großangriff der Reformation gescheitert, oder sie ging an sich selbst zugrunde. Andreas Urs Sommer hat die für diese Alternative einschlägigen Belege zusammengetragen und einander gegenübergestellt (Sommer 2017, S. 591– 562). Dafür, dass die Renaissance an sich selbst zugrunde ging, spricht demnach, dass die vielfach als das personifizierte Symbol dieser Epoche angesehene Figur auch für Nietzsche Cesare Borgia war: So virtuos, verderbt, genial und skrupellos wie er wäre aus dieser Perspektive auch das ganze Zeitalter, in dem Blüte und Dekadenz nicht mehr voneinander zu trennen schienen. Diese Beurteilung gälte zwar für die Epoche unter Einschluss der politischen Vorgänge und ihrer Protagonisten, sie gälte allerdings nicht eo ipso für den Humanismus als die integrierende kulturelle Bewegung der Epoche, das heißt: wenn man bei dieser kritischen Beurteilung der Epoche bliebe, so hätte man sich die Hypothek aufgeladen, erklären zu müssen, wie es zu dieser Bifurkation zwischen Humanismus als Stifter des geistigen Profils dieser Epoche einerseits und politischer bzw. moralischer Dekadenz des zivilisatorischen Niveaus andererseits kommen konnte. Die dabei zugrunde gelegte Unterscheidung zwischen Renaissance und Humanismus lässt sich in Kürze wie folgt zusammenfassen:
– Renaissance ist der Name der nachmittelalterlichen Epoche, deren ausdrückliche Abgrenzung gegen die Zeit der „Finsternis“ zuvor durch Francesco Petrarca, den sogenannten „Vater des Humanismus“, deutlich markiert worden war (vgl. dazu Mommsen 1942, S. 226–227). Es war die Zeit einer aufkommenden Aufwertung der Immanenz gegenüber der Transzendenz, einer schleichenden Säkularisierung, eines wachsenden Interesses an der Individualität des Menschen vornehmlich auf den Feldern der bildenden Kunst und der Literatur, sowie einer beginnenden Trennung des Handlungsraums der Politik von den ideologischen und institutionellen Ansprüchen der christlichen Religion, maßgeblich konzipiert und finalisiert durch Niccolò Machiavelli. Für diese Entwicklung ist die Figur Cesare Borgias teilweise repräsentativ, und Nietzsche dürfte ihn mit im Auge gehabt haben, wenn er von der ‚entfesselten Individualität‘ spricht.
– Unter Humanismus ist die das geistige und künstlerische Leben der Renaissance integrierende Bewegung zu verstehen, die seit Petrarca auf den Feldern der Philologie, der Wissenschaften, der bildenden Künste und der Philosophie zu einer vom dogmatischen Geist des Mittelalters zunehmend losgelösten Entfaltung kam: die Renaissance kann gleichwohl nicht einfach mit der Formel „Mittelalter ohne Gott“ („Moyen âge moins dieu“; Gilson 1983, S. 28) bezeichnet werden, sondern vielmehr wäre die exakte Umkehrung zutreffend: ‚Gott ohne Mittelalter‘. Die Gegnerschaft Luthers und der Reformation, jedenfalls dort, wo diese seit 1517 seine Prägung erfuhr, zielte der Sache nach auf sämtliche dieser sich noch in der Entfaltung befindenden Qualitäten – vornehmlich auf den Immanentismus der Lebensführung – Lebenslust statt Weltflucht war angesagt –, sodann auf den Freigeist des Individuums, und nicht zuletzt auf den wissenschaftlichen Perspektivismus, der einem wissenschaftlichen und weltanschaulichen Pluralismus korrespondierte. Luthers zusätzliche Kampfansage an das Hochmittelalter widerspricht dieser Adressierung seiner Kritik keineswegs, sondern ergänzt sie sinnvoll: Das Hochmittelalter ist die Epoche der Scholastik. Diese geistige Formation gehört ebenfalls zum Feindbild Luthers, generell weil sie in religiösen Dingen zu sehr auf die Kompetenz des menschlichen Intellekts setzte, und weniger auf das Wagnis des Glaubens, speziell aber, weil sie dem Werk und der Tradition des Aristoteles verfallen war. Das verband sie mit dem wissenschaftlichen Aristotelismus im Italien der Lutherzeit, vornehmlich in Padua, und seinem tendenziell materialistischen Weltbild (vgl. Rudolph 2017b). Als Verursacher für das aus Nietzsches Sicht erfolgte Scheitern der Renaissance kandidiert, wie Sommer ebenfalls festhält, vorrangig die Reformation – so wie Nietzsche es in Menschliches, Allzumenschliches (MA I 237) ohnehin definitiv fixiert hat. Der Humanismus konnte nicht an sich selbst zugrunde gehen – dazu waren Lebensfreude und Freigeist zu diszipliniert, zu streng und auch zu diskursiv eingebunden in die Beschäftigung mit der eigenen Bildung.
Literaturverzeichnis
Benne, Christian/Santini, Carlotta (2014): „Nietzsche und die Philologie“. In: Helmut Heit/Lisa Heller (Hrsg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Berlin, Boston, S. 173–200.
Buck, August (1975): „Der italienische Humanismus“. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.): Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht. Bonn.
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Humanisme et Renaissance. Paris.
Laks, André (2006): Introduction à la „philosophie presocratique“. Paris.
Laks, André (2010): „Nietzsche et la question des successions des anciens philosophes. Vers un réexamen du statut de la philologie chez le jeune Nietzsche“. In: Nietzsche-Studien 39, S. 244–254.
Mann, Thomas (1948): Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Berlin.
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1967): Werke. Bd. 35. Berlin.
Mommsen, Theodor (1942): „Petrarch’s Conception of the ‚Dark Ages‘“. In: Speculum 17, Nr. 2, S. 226–242.
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Rudolph, Enno (2017b): „Vom Segen der Unfreiheit. Luthers Religionspopulismus. Die ‚Heidelberger Disputation‘ und ‚Vom unfreien Willen‘ synoptisch gelesen“. In: Richard Faber/Uwe Puschner (Hrsg.): Luther – zeitgenössisch, historisch, kontrovers. Berlin, S. 581–590.
Sommer, Andreas Urs (2017): „Nietzsches Luther. Zum umwerterischen Umgang mit Erich Schmidt, Friedrich von Hellwald, Jacob Burckhardt, Johannes Janssen und Hippolyte Taine als Quellen zur Geschichte der frühen Neuzeit“. In: Richard Faber/Uwe Puschner (Hrsg.): Luther – zeitgenössisch, historisch, kontrovers. Berlin, S. 591–604.
Thouard, Denis (2000): „Le centaure et le cyclope. Nietzsche et la philologie entre critique et mythe“. In: Marc Crepon (Hrsg.): Nietzsche. Paris, S. 155–174.
Zimmermann, Rolf (2017): Ankommen in der Republik. Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie. Freiburg, München.
Erstellungsdatum: 29.06.2025