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Die „Erfindung“ des Philologen in der Reformation und Nietzsches Humanismus der „klassischen Studien“

Philologie und Gegenphilologie (I)

Enno Rudolph


Friedrich Nietzsche um 1875. Foto: Friedrich Hartmann. wikimedia commons

Wofür Friedrich Nietzsche nicht alles verantwortlich gemacht wurde! Zum einen, weil seine Rollenprosa und seine Ironie nicht verstanden wurden, zum andern, weil einige seiner Aphorismen von den Nationalsozialisten ideologisch missbraucht wurden. Die Frage, ob er dem Missbrauch Vorschub geleistet hat, stellte sich nicht nur Thomas Mann. Der Philosoph Enno Rudolph geht diesem Vorwurf nach sowie dem Problem mit der Philologie und dem missverstandenen Platon. Wir bringen den großen Essay in zwei Teilen. Hier ist der erste.

1 „Er muss es sich gefallen lassen, ein Humanist genannt zu werden“

 

Thomas Mann hat sich mehrfach öffentlich über Nietzsche geäußert. Sein im Jahre 1947 im PEN Club Zürich gehaltener Vortrag mit dem Titel Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, den er zuvor in Washington in englischer Sprache präsentiert hatte, nimmt dabei eine Sonderstellung ein: Die Erfahrungswelt, auf die der Vortragstitel anspielt, war deutlich geprägt von der unmittelbar einsetzenden traumatischen Wirkung der zwei Jahre zuvor zu Ende gegangenen Nazi-Herrschaft. Thomas Mann nutzte die Gelegenheit, um die Frage zu diskutieren, ob Nietzsche als ein Vordenker des Nationalsozialismus anzusehen sei, und ob er etwa mit bestimmten charakteristischen Wendungen, Ausdrücken, Begriffen, Parolen oder Lehrstücken, derer die Nazis sich dankbar bedient hatten (Übermensch, Wille zur Macht et. al.), gleichsam eine ideologische Vorarbeit für den deutschen Faschismus geleistet habe: „Schrittmacher“, „Mitschöpfer“ und „Ideensouffleur“ des deutschen, des europäischen und sogar des „Weltfaschismus“ sei er gewesen, so etwa lauteten die aus dem sozialistischen Lager stammenden Verurteilungen, auf die Thomas Mann sich durchaus kritisch bezog, und die bekanntlich bis heute nicht verstummt sind.

2 Die Rehabilitation der Gegenphilologie

Wer über Nietzsche urteilt, zumal ultimativ, muss um die Vieldeutigkeit wissen, die seiner Wortwahl oftmals eigen sein kann, um die Vielfalt der Perspektiven, die er immer wieder einnimmt, und um den Pluralismus von Bedeutungen, mit dem er – oftmals nur im ‚Subtext‘ – operiert. Analoges gilt tatsächlich bereits in repräsentativer Weise für eine Reihe von maßgeblichen Humanisten wie Petrarca, Pico della Mirandola oder sogar nördlich der Alpen von Erasmus von Rotterdam, allesamt Autoren, die auf den Klaviaturen mehrerer verschiedener Genres spielten: der Poesie, der Rhetorik und der theoretischen Abhandlungen. Fertigkeiten dieser Art kann Nietzsche in höchsten Tönen loben, ohne zu verhehlen, wie sehr er sich ihnen verbunden weiss: denn es waren diese Errungenschaften – wie „der Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft“, oder „die Entfesselung des Individuums“ –, die sich diesen Fertigkeiten verdankten, und die die Epoche der Renaissance zum „goldene[n] Zeitalter“ machten (MA I 237; KSA 2, S. 199). Und es sind – neben anderen – diese Kompetenzen, die der Bewegung gutgeschrieben werden, durch die das Zeitalter der Renaissance ihr authentisches Epochenprofil erhielt, und die seit Friedrich Immanuel Niethammer unter dem Titel „Humanismus“ geführt wird. Der Name lässt sich legitimieren als die Synthese aus drei historischen Innovationen der nachmittelalterlichen Zeit auf den Gebieten der Bildung und der Literatur, denen das Prädikat „humanistisch“ gemeinsam ist: an erster Stelle ist zu erinnern an die Etablierung der philologischen Kompetenz des Humanista im 14. Jahrhundert, sodann an eine auffällige Innovation auf dem Feld der literarischen Kultur, nämlich die relativ plötzliche Entstehung einer länder- übergreifend gleichzeitigen publizistischen Beschäftigung mit der Würde des Menschen („Dignitasliteratur“) im Quattrocento, zu der maßgeblich auch die prominente Schrift Oratio de hominis dignitate von Pico della Mirandola gehört. Und parallel zu beidem kann die Einrichtung der studia humanitatis als quantitative und qualitative Erweiterung der artes liberales durch die Poetik, die Geschichtswissenschaft und die Moralphilosophie als das wichtigste Element der begrifflichen Synthese mit dem Titel „Humanismus“ angesehen werden.

Dass Nietzsches Ruf durch den Vollzug der ‚feindlichen Übernahme‘ seitens der Nazis, der sein Werk ausgeliefert war, nachhaltig beschädigt worden war, ist unbestritten. Urteile wie dasjenige von Thomas Mann über die Kontinuität von Nietzsche zum Nazi-Faschismus konnten – in diesem Fall besonders wirkmächtig, weil von einem höchsten Dichter gleichsam ex cathedra verkündet und festgeschrieben – nachhaltig dazu beitragen, dass es nach 1945 dauerhaft bei diesem Stigma blieb. Umso drängender stellt sich – gerade in diesem Zusammenhang – die Frage nach dem spezifischen Profil von Philologie – von Textkritik, Textauslegung und Textedition, sodann von Sprachphilosophie, Rezeptionstheorie und Hermeneutik –, das Nietzsche mit den Humanisten aufgekommen und durch die Reformation jäh abgebrochen sah. Denn verbunden ist damit die weitere Frage, ob er an dieses Paradigma wieder anzuknüpfen beabsichtigte. Im Falle einer positiven Beantwortung dieser Frage ließen sich möglicherweise die Konturen eines spezifisch Nietzscheschen Humanismus nachzeichnen, der dem historischen Paradigma in der Renaissance durch den gemeinsamen ‚harten Kern‘, die Philologie, auffällig nahe stünde, wodurch zugleich der Verdacht einer konzeptionellen Verwandtschaft zwischen Nietzsche und dem Nazi-Faschismus (‚Kontinuitätsthese‘) weiter an Überzeugungskraft verlöre. Die ‚Differenzthese‘ hingegen würde gestärkt werden: der Abstand zwischen einer an Idee und Methode des Renaissance-Humanismus orientierten Philologie einerseits und einer faschismustauglichen Weltanschauungsphilosophie andererseits wäre zu groß.

Die Frage nach Nietzsches Absicht als Philologe, als Rezipient und als Anwalt des Humanismus kann allerdings vermutlich nicht beantwortet werden, ohne die von ihm aufgestellte historische These über Grund und Ursache des Scheiterns der Renaissance genauer zu überprüfen. Die Textlage ermöglicht dazu zwei Hypothesen: Entweder ist die Renaissance am epochalen Großangriff der Reformation gescheitert, oder sie ging an sich selbst zugrunde. Andreas Urs Sommer hat die für diese Alternative einschlägigen Belege zusammengetragen und einander gegenübergestellt (Sommer 2017, S. 591– 562). Dafür, dass die Renaissance an sich selbst zugrunde ging, spricht demnach, dass die vielfach als das personifizierte Symbol dieser Epoche angesehene Figur auch für Nietzsche Cesare Borgia war: So virtuos, verderbt, genial und skrupellos wie er wäre aus dieser Perspektive auch das ganze Zeitalter, in dem Blüte und Dekadenz nicht mehr voneinander zu trennen schienen. Diese Beurteilung gälte zwar für die Epoche unter Einschluss der politischen Vorgänge und ihrer Protagonisten, sie gälte allerdings nicht eo ipso für den Humanismus als die integrierende kulturelle Bewegung der Epoche, das heißt: wenn man bei dieser kritischen Beurteilung der Epoche bliebe, so hätte man sich die Hypothek aufgeladen, erklären zu müssen, wie es zu dieser Bifurkation zwischen Humanismus als Stifter des geistigen Profils dieser Epoche einerseits und politischer bzw. moralischer Dekadenz des zivilisatorischen Niveaus andererseits kommen konnte. Die dabei zugrunde gelegte Unterscheidung zwischen Renaissance und Humanismus lässt sich in Kürze wie folgt zusammenfassen:

– Renaissance ist der Name der nachmittelalterlichen Epoche, deren ausdrückliche Abgrenzung gegen die Zeit der „Finsternis“ zuvor durch Francesco Petrarca, den sogenannten „Vater des Humanismus“, deutlich markiert worden war (vgl. dazu Mommsen 1942, S. 226–227). Es war die Zeit einer aufkommenden Aufwertung der Immanenz gegenüber der Transzendenz, einer schleichenden Säkularisierung, eines wachsenden Interesses an der Individualität des Menschen vornehmlich auf den Feldern der bildenden Kunst und der Literatur, sowie einer beginnenden Trennung des Handlungsraums der Politik von den ideologischen und institutionellen Ansprüchen der christlichen Religion, maßgeblich konzipiert und finalisiert durch Niccolò Machiavelli. Für diese Entwicklung ist die Figur Cesare Borgias teilweise repräsentativ, und Nietzsche dürfte ihn mit im Auge gehabt haben, wenn er von der ‚entfesselten Individualität‘ spricht.


– Unter Humanismus ist die das geistige und künstlerische Leben der Renaissance integrierende Bewegung zu verstehen, die seit Petrarca auf den Feldern der Philologie, der Wissenschaften, der bildenden Künste und der Philosophie zu einer vom dogmatischen Geist des Mittelalters zunehmend losgelösten Entfaltung kam: die Renaissance kann gleichwohl nicht einfach mit der Formel „Mittelalter ohne Gott“ („Moyen âge moins dieu“; Gilson 1983, S. 28) bezeichnet werden, sondern vielmehr wäre die exakte Umkehrung zutreffend: ‚Gott ohne Mittelalter‘. Die Gegnerschaft Luthers und der Reformation, jedenfalls dort, wo diese seit 1517 seine Prägung erfuhr, zielte der Sache nach auf sämtliche dieser sich noch in der Entfaltung befindenden Qualitäten – vornehmlich auf den Immanentismus der Lebensführung – Lebenslust statt Weltflucht war angesagt –, sodann auf den Freigeist des Individuums, und nicht zuletzt auf den wissenschaftlichen Perspektivismus, der einem wissenschaftlichen und weltanschaulichen Pluralismus korrespondierte. Luthers zusätzliche Kampfansage an das Hochmittelalter widerspricht dieser Adressierung seiner Kritik keineswegs, sondern ergänzt sie sinnvoll: Das Hochmittelalter ist die Epoche der Scholastik. Diese geistige Formation gehört ebenfalls zum Feindbild Luthers, generell weil sie in religiösen Dingen zu sehr auf die Kompetenz des menschlichen Intellekts setzte, und weniger auf das Wagnis des Glaubens, speziell aber, weil sie dem Werk und der Tradition des Aristoteles verfallen war. Das verband sie mit dem wissenschaftlichen Aristotelismus im Italien der Lutherzeit, vornehmlich in Padua, und seinem tendenziell materialistischen Weltbild (vgl. Rudolph 2017b). Als Verursacher für das aus Nietzsches Sicht erfolgte Scheitern der Renaissance kandidiert, wie Sommer ebenfalls festhält, vorrangig die Reformation – so wie Nietzsche es in Menschliches, Allzumenschliches (MA I 237) ohnehin definitiv fixiert hat. Der Humanismus konnte nicht an sich selbst zugrunde gehen – dazu waren Lebensfreude und Freigeist zu diszipliniert, zu streng und auch zu diskursiv eingebunden in die Beschäftigung mit der eigenen Bildung.

 

Literaturverzeichnis

Benne, Christian/Santini, Carlotta (2014): „Nietzsche und die Philologie“. In: Helmut Heit/Lisa Heller (Hrsg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Berlin, Boston, S. 173–200.

Buck, August (1975): „Der italienische Humanismus“. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.): Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht. Bonn.

Cancik, Hubert (2000): Nietzsches Antike. Vorlesung. Stuttgart.
Gilson, Etienne (1983): „L’Humanisme médiéval et la Renaissance“. In: Etienne Gilson (Hrsg.):

Humanisme et Renaissance. Paris.


Laks, André (2006): Introduction à la „philosophie presocratique“. Paris.

Laks, André (2010): „Nietzsche et la question des successions des anciens philosophes. Vers un réexamen du statut de la philologie chez le jeune Nietzsche“. In: Nietzsche-Studien 39, S. 244–254.


Mann, Thomas (1948): Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Berlin.


Marx, Karl/Engels, Friedrich (1967): Werke. Bd. 35. Berlin.


Mommsen, Theodor (1942): „Petrarch’s Conception of the ‚Dark Ages‘“. In: Speculum 17, Nr. 2, S. 226–242.


Rudolph, Enno (2017a): Wege der Macht. Philosophische Machttheorien von der Antike bis zur Gegenwart. Weilerswist.

Rudolph, Enno (2017b): „Vom Segen der Unfreiheit. Luthers Religionspopulismus. Die ‚Heidelberger Disputation‘ und ‚Vom unfreien Willen‘ synoptisch gelesen“. In: Richard Faber/Uwe Puschner (Hrsg.): Luther – zeitgenössisch, historisch, kontrovers. Berlin, S. 581–590.

Sommer, Andreas Urs (2017): „Nietzsches Luther. Zum umwerterischen Umgang mit Erich Schmidt, Friedrich von Hellwald, Jacob Burckhardt, Johannes Janssen und Hippolyte Taine als Quellen zur Geschichte der frühen Neuzeit“. In: Richard Faber/Uwe Puschner (Hrsg.): Luther – zeitgenössisch, historisch, kontrovers. Berlin, S. 591–604.

Thouard, Denis (2000): „Le centaure et le cyclope. Nietzsche et la philologie entre critique et mythe“. In: Marc Crepon (Hrsg.): Nietzsche. Paris, S. 155–174.

Zimmermann, Rolf (2017): Ankommen in der Republik. Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie. Freiburg, München.

Erstellungsdatum: 29.06.2025