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Die „Erfindung“ des Philologen in der Reformation und Nietzsches Humanismus der „klassischen Studien“

Philologie und Gegenphilologie (II)

Enno Rudolph


Friedrich Nietzsche, Foto von 1869, Fotobearbeitung TEXTOR

Wofür Friedrich Nietzsche nicht alles verantwortlich gemacht wurde! Zum einen, weil seine Rollenprosa und seine Ironie nicht verstanden wurden, zum andern, weil einige seiner Aphorismen von den Nationalsozialisten ideologisch missbraucht wurden. Die Frage, ob er dem Missbrauch Vorschub geleistet hat, stellte sich nicht nur Thomas Mann. Der Philosoph Enno Rudolph geht diesem Vorwurf nach sowie dem Problem mit der Philologie und dem missverstandenen Platon. Wir bringen den großen Essay in zwei Teilen. Hier ist der zweite.

 

Vor diesem grob skizzierten Hintergrund des komplexen Zusammenhangs von Nietzsches Philologieverständnis im Rückblick auf ihre historische Herleitung und im Vorblick auf das mögliche Projekt einer Philologie, die ihren Namen verdient, verfolgen die hier anschließenden Ausführungen das Ziel, dazu beizutragen, den Text von Thomas Mann auf der Liste prominenter Beispiele für eine Auffassung von Wirkungsgeschichte platzieren zu können, für die charakteristisch ist, einen historisch eminenten Autor für eklatante und fatale Rezeptionen seines Werkes verantwortlich zu machen: Ähnlich wie vom Antimachiavel Friedrichs des Großen bekannt ist, dass er entscheidend dazu beitrug, Machiavellis zweifelhaften Ruf als Begründer des Machiavellismus dauerhaft zu festigen. Und von Karl Marx ist ein Spruch überliefert, den er auf den Lippen gehabt haben soll, als er junge Sozialisten dabei beobachtete, wie sie unter Verwendung der Vokabel „Marxismus“ exzessive Randale veranstalteten: „Alles was ich weiss, ist, dass ich kein Marxist bin“, habe Marx (laut Friedrich Engels) daraufhin gesagt (Marx/Engels 1967, S. 388).

Ebenso wenig wie die Machiavellisten, bzw. die Machiavellismus-Fahnder dieser Welt aus Machiavellis prominentem Text Il Principe ein schlüssiges Dokument für die Grundlegung des Machiavellismus in Gestalt einer Rezeptur für den erfolgreichen Machtgebrauch skrupelloser Tyrannen machen konnten, ebenso wenig lässt sich auch aus dem Werk von Karl Marx eine Rezeptur für die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung bzw. sogar einer stalinistischen Diktatur plausibel ableiten. Ähnlich lässt sich auch bei Nietzsche wohl kaum eine hinreichend aussagekräftige Textur ausmachen, aus der sich unzweideutig eine legitimierende Referenz für den Hitlerfaschismus (oder für irgendeinen anderen Faschismustyp) herleiten ließe – jedenfalls nicht, solange man nicht willkürlich eklektizistisch verfährt, sondern dem engeren und dem weiteren Kontext des Autors verpflichtet bleibt und sich – anders als Thomas Mann – zumindest den Widersprüchen zwischen den prima vista belastenden Passagen einerseits, und den klaren Bekenntnissen etwa zur humanistischen Gelehrtenkunst, aber auch zur ‚Morgenröte‘ der Aufklärung, andererseits stellt. Ein weiteres Ziel der folgenden Ausführungen besteht darin, einen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten, welche Rolle der Kernkompetenz Nietzsches, der klassischen Philologie, bei seiner Tätigkeit als kritischer Genealoge der Kultur – hier als Genealoge der kulturellen Konfrontation von Renaissance und Reformation – zuzuschreiben ist.

Nietzsches Bemerkungen über die Reformation im allgemeinen und Luther im besonderen sind über sein Werk verstreut platziert, und nur der jeweilige Kontext lässt erkennen, dass er den Titel seiner eigenen Fachdisziplin in zwei einander scharf entgegengesetzten Bedeutungen verwendet und welche der beiden Versionen er gerade aktualisiert: es handelt sich um eine konsequent positiv und eine konsequent negativ besetzte Version, deren letztere, fachhistorisch gesehen, die erstere fataler Weise abgelöst hat. Im Zusammenhang mit diesem Thema fällt Nietzsches Urteil über die historische Rolle des Christentums beim Wandel des Profils und des Kompetenzbereichs der Philologie besonders prägnant aus:

Es ist der Kirche im Ganzen g e l u n g e n, den klassischen Studien eine u n s c h ä d l i c h e Wendung zu geben: d e r  P h i l o l o g e  w u r d e  e r f u n d e n [...]: und auch im Bereiche der Reformation gelang es, den Gelehrten ebenfalls zu castrieren. (KSA 8, 5[107])

Nietzsche illustriert damit nichts anderes als die Ablösung des Humanista durch den Katecheten Lutherscher Prägung. Die ‚erfundene‘ Philologie verdrängte sich de facto gegen diejenige vorgängige Philologie, die als eine besondere Fertigkeit in der Renaissanceepoche aufkam, – und die sowohl als ein Kind dieser Zeit als auch als entscheidender Stifter und Mitgestalter des Epochenprofils von Anfang an zum Projekt der Renaissance gehörte –, mit dem Erfolg, dass deren „grosse Aufgabe [...] nicht zu Ende gebracht werden“ konnte (MA I 237; KSA 2, S. 199). Sie wurde eigens zum Dienst an einer Auslegungspraxis ‚erfunden‘, die in der exklusiven Konzentration auf Die Schrift (sola scriptura) ihren ursprünglich genuinen Auftrag zu erfüllen hatte.

Nietzsche unterscheidet die Funktion des ‚erfundenen‘, des zweckgebunden instrumentalisierten Philologen konsequent von der Kompetenz des ‚Gelehrten‘, mit dem er den Vertreter der ‚klassischen Studien‘ identifiziert, und zwar in offenkundiger Anspielung an die epochale Bedeutung der studia humanitatis, von denen wir wissen, dass sie die historische Schöpfung der zweiten Generation der Gründerväter des „Humanismus“ nach Petrarca – Coluccio Salutati, Manuel Chrysoloras und Leonardo Bruni – waren. Offenkundig ging es Nietzsche um eine offene Kritik an allem, was zu seiner Zeit unter dem Namen ‚Philologie‘ versammelt war und in ihrem Namen zu Präferenzen führte, die er ebenso wenig akzeptierte wie die Verwerfungen. Er markiert damit einmal mehr den Abstand zu den eminenten Repräsentanten dieser Zunft ebenso sarkastisch wie polemisch. Als offensichtlicher Sympathisant des ‚Philologen-Poeten‘ führt er vor, dass und wie der ‚erfundene‘ Philologe sich übernimmt, wenn der mit „unverschämte[r] Willkürlichkeit“ die Beschränkung seiner hermeneutischen Kompetenz durch den Ausruf bestätigt: „‚ich habe Recht, denn es steht geschrieben –‘“ (M I 84; KSA 3, S. 79).

Die von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff geforderte Ächtung Nietzsches führte also zu einer subtilen Gegenwehr: Nietzsche betätigt sich als ironischer Genealoge der Philologie. Seine eigene Position im Blick auf die ursprüngliche Idee, den Wert und die Funktion der Philologie wirkt zwar illusionslos, bleibt aber offenbar trotz dieser Konfrontation stabil. An der Aktualität der Tätigkeit, die eigentlich unter dem in die Hände von Etikettenschwindlern geratenen Fachtitel „Philologie“ zu verrichten wäre, hält er fest:

Die Philologie als Wissenschaft um das Althertum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Accomodation jeder Zeit an das Althertum, das sich daran Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, s e i n e  Zeit vermittelst des Althertums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige. – Dies ist die Antinomie der Philologie: man hat das A l t h e r t u m  thatsächlich immer nur a u s  d e r  G e g e n w a r t  verstanden – und soll nun die G e g e n w a r t  a u s  d e m  A l t h e r t u m  verstehen? (KSA 8, 3[62])

Diese Notiz aus dem Nachlass stammt aus dem Jahre 1875, also der frühen Schaffensperiode zwischen der Geburt der Tragödie und den vier Unzeitgemässen Betrachtungen, aus der zahlreiche Belege stammen, die dokumentieren, dass es Nietzsche über viele Jahre um eine Neuorientierung der Klassischen Philologie ging, eine allerdings, die zu einer grundlegenden Veränderung der Wissenschaftskultur, ihrer Methoden, Präferenzen, Selektionsprinzipien und Normen führen sollte. Diese Neuorientierung spiegelt sich in der Abkehr von der bis dato als ein Primärparadigma geltenden Homerforschung hin zu einer offensiven Privilegierung der Auseinandersetzung mit den „vorplatonischen Philosophen“ (PHG 2; KSA 1, S. 809), deren Bedeutung Nietzsche u. a. darin sieht, dass sie jeweils „reine[ ]“ Positionen vertreten und sich durch ein „reines“ Denken auszeichnen – im Gegensatz zu den mit Platon einsetzenden „Mischcharaktere[n]“ (vgl. zur Genese des später geläufigen Titels „Vorsokratiker“ Laks 2006, S. 35 – 36). Zur Würdigung dieses Unterschiedes aber gehören offenbar ,scharfe Köpfe‘: „Mit Arbeitsamkeit lässt sich nicht viel erzwingen, wenn der Kopf stumpf ist. Über Homer her fallende Philologen glauben, man könne es erzwingen. Das Althertum redet mit uns, wenn es Lust hat, nicht wenn wir.“ (KSA 8, 3[56])

 

3 Genealogie als aktualisierte Philologie

Christian Benne hat nicht nur einen wertvollen Bericht über den Forschungsstand zur Frage nach Profil und Funktion der Philologie in Nietzsches Werk vorgelegt, sondern er hat die Beantwortung dieser Frage weit vorangetrieben und damit zugleich ein Anliegen aufgenommen, das inzwischen vielfach aus unterschiedlichen Richtungen vorgetragen worden war (hervorzuheben sind Laks 2010, S. 244–245; Thouard 2000, S. 155). Auch er spürt in dem Fragment gebliebenen Text Wir Philologen, „dass Nietzsche mit der Philologie noch nicht abgeschlossen hat“ (Benne 2014, S. 191), und mehr noch: dass er „aus dem Geist einer anderen zukünftigen Philologie heraus“ argumentiere; er habe im Gegenzug zur handwerklich und thematisch erstarrten Philologie seiner Gegenwart einen „emphatischen Philologiebegriff“ im Auge, dessen Idee, so darf vermutet werden, so etwas wie eine Leitfunktion nicht nur für den jungen, sondern auch für den späten Nietzsche übernommen habe könnte. In der Genealogie der Moral erkennt Benne sogar die Konturen eines erweiterten Textbegriffs – des „Textes der abendländischen Moral“ (Benne 2014, S. 194, vgl. auch S. 191– 192 und S. 196). Nietzsche sah sich demnach angesichts der Defensive, in die er nach dem Bannstrahl der Philologenzunft geraten war, nachgerade veranlasst, und ging zur Gegenoffensive über. Dies geschah – unter der Voraussetzung, dass er den besten Tugenden der Philologie, als da wären Textkritik, Quellenforschung und Sicherstellung der Überlieferung (vgl. Benne 2014, S. 177), niemals abgeschworen hatte – den zusammengetragenen Beobachtungen zufolge in zwei Schritten: Deren erster dürfte in der Durchführung einer Genealogie der Philologie – einer ‚Philologie der Philologie‘ – und deren zweiter in der Konstruktion von Metatexten der empirischen Texte – des ‚Textes der Moral‘, des ‚Textes der Religion‘, des ‚Textes der Metaphysik‘ oder des ‚Textes der Wissenschaften‘ – bestanden hätte. Darin wäre die eigentliche Leistung der Genealogie zu sehen, und der Schritt zu der inzwischen vertrauten Metapher vom ‚Text der Kultur‘ wäre minimal. Dazu passt, dass Nietzsche ausdrücklich anbietet, den Textbegriff auf Phänomene auszuweiten, wie explizit auf die Natur und implizit auf die Kultur: An einer populären Stelle hält Nietzsche den Physikern vor, im gewohnheitsgemäß verfolgten Interesse an der Aufstellung von Naturgesetzen die gegebene Diversität der Naturphänomene sträflich zu vernachlässigen und zum Zwecke der Bestandaufnahme von Gemeinsamkeiten das Naturgesetz an die Stelle der Natur zu setzen:

Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretationskünste den Finger zu legen: aber jene „Gesetzmässigkeit der Natur“, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – besteht nur dank Eurer Ausdeutung und schlechten „Philologie“, – sie ist kein Thatbestand, kein „Text“ [...].

(JGB 22; KSA 5, S. 37; vgl. Benne 2014, S. 195)

 

Literaturverzeichnis

Benne, Christian/Santini, Carlotta (2014): „Nietzsche und die Philologie“. In: Helmut Heit/Lisa Heller (Hrsg.): Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften. Berlin, Boston, S. 173–200.

Buck, August (1975): „Der italienische Humanismus“. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.): Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht. Bonn.

Cancik, Hubert (2000): Nietzsches Antike. Vorlesung. Stuttgart.
Gilson, Etienne (1983): „L’Humanisme médiéval et la Renaissance“. In: Etienne Gilson (Hrsg.):

Humanisme et Renaissance. Paris.


Laks, André (2006): Introduction à la „philosophie presocratique“. Paris.

Laks, André (2010): „Nietzsche et la question des successions des anciens philosophes. Vers un réexamen du statut de la philologie chez le jeune Nietzsche“. In: Nietzsche-Studien 39, S. 244–254.


Mann, Thomas (1948): Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Berlin.


Marx, Karl/Engels, Friedrich (1967): Werke. Bd. 35. Berlin.


Mommsen, Theodor (1942): „Petrarch’s Conception of the ‚Dark Ages‘“. In: Speculum 17, Nr. 2, S. 226–242.


Rudolph, Enno (2017a): Wege der Macht. Philosophische Machttheorien von der Antike bis zur Gegenwart. Weilerswist.

Rudolph, Enno (2017b): „Vom Segen der Unfreiheit. Luthers Religionspopulismus. Die ‚Heidelberger Disputation‘ und ‚Vom unfreien Willen‘ synoptisch gelesen“. In: Richard Faber/Uwe Puschner (Hrsg.): Luther – zeitgenössisch, historisch, kontrovers. Berlin, S. 581–590.

Sommer, Andreas Urs (2017): „Nietzsches Luther. Zum umwerterischen Umgang mit Erich Schmidt, Friedrich von Hellwald, Jacob Burckhardt, Johannes Janssen und Hippolyte Taine als Quellen zur Geschichte der frühen Neuzeit“. In: Richard Faber/Uwe Puschner (Hrsg.): Luther – zeitgenössisch, historisch, kontrovers. Berlin, S. 591–604.

Thouard, Denis (2000): „Le centaure et le cyclope. Nietzsche et la philologie entre critique et mythe“. In: Marc Crepon (Hrsg.): Nietzsche. Paris, S. 155–174.

Zimmermann, Rolf (2017): Ankommen in der Republik. Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie. Freiburg, München.

Erstellungsdatum: 08.07.2025