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Regierungsbildung in Frankreich

Poker zwischen Parlament und Élysée

Jutta Roitsch


Im zentralstaatlichen Frankreich sind offenbar alte Mythen immer noch Faktoren der Politik. Die, denen die Götter Unsterblichkeit schenkten, wohnen im Palast der elysischen Gefilde, es gibt bourbonische und jakobinische Traditionen, kurz: Die politischen Spielregeln unserer Nachbarn können uns Deutschen zuweilen kurios erscheinen. Jutta Roitsch hat die jüngsten Ereignisse dort bündig zusammengefasst.

Seit acht Wochen geistert in unserem Nachbarland Frankreich ein Wort durch die Politik, die Medien, die gesamte Gesellschaft: „inédit/inédite“, heißt es und meint „etwas ganz und gar Neues“. Noch nie hat es in der V.Republik seit 1958 einen derartigen Stillstand in der Politik gegeben: Zwei Monaten lang blieb die Regierung des Gabriel Attal nur „geschäftsführend“ im Amt. Der Haushalt für das kommende Jahr wird der Nationalversammlung im Palais Bourbon nicht zum 1. Oktober vorgelegt, wie es die Verfassung vorschreibt. Zwei Wochen vor diesem Datum gibt es noch nicht einmal einen für den Budgetentwurf verantwortlichen Finanzminister. Nur einen Premierminister, den Staatspräsident Emmanuel Macron nach wochenlangen Zögern schließlich am 6. September ernannte: Seine Wahl fiel auf den 73jährigen Michel Barnier, den ehemaligen EU-Kommissar und altgedienten Politiker der rechten Partei Die Republikaner, die bei den vorgezogenen Parlamentswahlen gerade einmal fünf Prozent erhielt. So richtig regieren will mit Barnier bisher kaum ein politisches Schwergewicht, eine Mehrheit für ihn im Parlament ist nicht in Sicht. Wie aber ist es zu dieser verfahrenen, ganz und gar neuen Lage überhaupt gekommen?

Nach dem Durchmarsch des rechtsextremen Rassemblement National bei den Europawahlen mit 30 von 81 französischen Sitzen verfügte Präsident Emmanuel Macron am 9. Juni abrupt die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen in der nach der Verfassung schnellstmöglichen Zeit von drei Wochen. Er setzte auf den Schock über den dramatischen Rechtsruck und hegte die Erwartung, von seinen Französinnen und Franzosen für seine letzten drei Amtsjahre als mächtiger Präsident ein neues, starkes Mandat zu bekommen, die rechtsextreme Marine Le Pen als seine Nachfolgerin im Élysée Palast zu verhindern. Er hat sich verrechnet. Und nicht nur das: Er hat seinem Land eine demokratische Zitterpartie beschert.

Wie konnte das alles in einer so kurzen Zeit geschehen? Und was verband der Präsident mit dem „Elektroschock“, wie es aus dem Élysée Palast begeistert klang? An den Plänen für die Auflösung („dissolution“) der Nationalversammlung ließ Macron seit Monaten eine kleine Schar von Getreuen und (meist) verschwiegenen Vertrauten basteln. Nur der Zeitpunkt der Umsetzung blieb unklar: Irgendwann nach den Olympischen Spielen und der Sommerpause, vor oder während der Haushaltsberatungen im Oktober.

Schließlich hatte die Macronie seit den letzten Wahlen vor zwei Jahren nur eine relative, aber keine absolute Mehrheit mehr im Parlament und war auf rechtes Wohlwollen oder Dekrete am Parlament vorbei (nach Artikel 49.3 der Verfassung) angewiesen. Spätestens aber nach dem Machtpoker der rechten Republikaner und des rechtsextremen Rassemblement National (RN) im Dezember vergangenen Jahres über ein neues Einwanderungsgesetz wurde den Männern, die im Élysée aus- und eingehen und mit denen „Jupiter“ Macron gern den Apéro nimmt, klar: Noch so große Zugeständnisse an die Republikaner verlockten diese nicht, in die Regierung einzutreten und so für eine absolute Mehrheit zu sorgen. Ihr damaliger Präsident Éric Ciotti bandelte schon bei den Präsidentschaftswahlen mit dem rechtsradikalen Populisten Éric Zemmour an und ist inzwischen ein Spalter in seiner Partei und ein Alliierter des Rassemblement.

Das braune Bild färbte sich bunt

Und sie sollten nach der ersten Runde am 30. Juni Recht behalten: Wieder färbte sich die Landkarte braun, tiefbraun in den ehemaligen Industrie- und Bergbaugebieten im Norden und tiefbraun an der gesamten Mittelmeerküste. Nach dem Wahlforschungsinstitut Ipsos wählten 40 Prozent der Beschäftigten aus dem Privatsektor den RN, unter den Arbeitern waren es 57 Prozent (Le Monde vom 4. Juli). Und ob „Phantomkandidat“ oder offen Antisemitisches: Über zehn Millionen Französinnen und Franzosen kreuzten die Kandidatinnen und Kandidaten der Rechtsextremen an und schickten sie in die Stichwahl eine Woche später. Aber die Duelle, hier die Macronie, dort die Rechtsextremen, auf die Macron gesetzt hatte, fanden nicht statt.

In der Woche zwischen den beiden Wahlgängen bewegte sich in Frankreich etwas, mit dem weder Meinungsforscher noch die Politikberater im Élysée oder auch die Parteichefs in Paris gerechnet hätten. Für großes Taktieren oder Nachdenken blieb keine Zeit: innerhalb von drei Tagen nach dem ersten Wahlgang musste entschieden werden, wer von Wahlbezirk zu Wahlbezirk in der Stichwahl antritt. Und in diesen wenigen Tagen zeigte sich vor Ort, in der vielzitierten „la France profonde“ auf dem Land und in den Kleinstädten, aber selbst in den Ballungszentren Lyon, Toulouse oder Paris (und Umland), dass in diesem Land ein demokratisches Fundament und ein tiefverankertes republikanisches Bewusstsein vorhanden ist: Der Zusammenschluss im „arc republicain“ gegen den Rassemblement National funktionierte von der neuen Volksfront bis zu den Republikanern mit einer kaum erwartbaren Selbstverständlichkeit.

Linke Volksfrontler verzichteten zugunsten von Republikanern oder Macronisten, Republikaner oder Macronisten zogen ihre Kandidatur zugunsten der Linken oder anderen Kandidaten zurück, die eine Chance hatten, die Stichwahl gegen den RN zu gewinnen. So färbte sich das braune Bild nach dem ersten Wahlgang in ein buntes nach dem zweiten Wahlgang: blau für die Republikaner (45 Sitze), gelb für die Präsidenten-Bewegung „Ensemble“ (168), lila für die Volksfront (182) und braun für den RN (143). In der Nationalversammlung bietet sich nun ein ungewohntes Bild von mindestens vier Fraktionen. Keine kommt auch nur annähernd an eine Mehrheit, weder an eine relative, die die Macronie bisher hatte und verlor, noch an eine absolute. Bemerkenswert bleibt dennoch: Innerhalb der jetzt siebenjährigen Präsidentenzeit Macrons eroberte im Palais Bourbon der Rassemblement 2017 sieben Sitze, 2022 89 und nun 143. Ein Signal für die nächsten Präsidentschaftswahlen?

Trotz alledem: Der Akt des „désistement“ ist die eigentlich Sensation dieser Neuwahl im Schnelldurchgang. Er blockierte den Aufstieg des RN an die Macht und damit den „plan matignon“. Er belegte aber gleichzeitig die große Verunsicherung unter den Französinnen und Franzosen auf dem platten Land, in den Banlieues von Lyon, Grenoble oder Paris, den Hafenstädten Marseille oder Le Havre. Wer sich die Ergebnisse genau ansieht, stellt mit Erstaunen fest, dass die linke Volksfront ihren knappen Vorsprung vor dem Bündnis der Macronie nur den Stimmen der Franzosen im Ausland zu verdanken hat. In der Metropole stimmten über 6,6 Millionen für „Ensemble“ und 6,5 Millionen für die Nouveau Front Populaire. Das ist für niemanden ein Grund für Triumphgesten. Und die 33,37 Prozent Enthaltungen im zweiten Wahlgang wären auch ein Anlass zum Nachdenken.

Schielen auf das Jahr 2027

Doch politisches Nachdenken und behutsames Abtasten von Möglichkeiten gehören nicht zu den eingeübten Gepflogenheiten im Élyséepalast und im Palais Bourbon. Von dem kurz vor dem zweiten Wahlgang ausgebrochenen Verständnis für ein demokratisches Miteinander, das die Wählerinnen und Wähler als Signal von unten nach oben gegeben haben, ist nichts mehr zu spüren. Es herrscht das altbekannte, in aller Härte ausgetragene Machtspiel zwischen dem Präsidenten und denjenigen, die ihn 2027 ablösen wollen. Es könnte sich hinziehen: Eine neue „dissolution“ kann der Präsident nach der Verfassung erst in einem Jahr verkünden. Das wissen eigentlich alle vom laut dröhnenden Jean-Luc Mélenchon (Unser Programm und nichts als unser Programm) bis zu Eduard Philippe (Horizons) mit seinem „nini“, keine Koalition mit Links und keine mit Rechts. Die Parteiführer von Mélenchon über Philippe bis Laurent Wauquiez (Republikaner) schielen auf das Jahr 2027: Sie entziehen sich (bisher noch) dem parlamentarische Willen der Bevölkerung, die Nationalversammlung zu einem demokratischen Gegengewicht zum sprunghaft-unbeliebten Präsidenten zu machen.
Doch der wendige Macron hat es in den letzten Wochen geschafft, seine Verantwortung für das „chienlit“ (im Volksmund für Chaos) an die neugewählten Parlamentarier abzugeben. In einem Brief an seine Landsleute, geschrieben im Staatsflieger zu den Nato-Feierlichkeiten in Washington, forderte er eine große nationale, proeuropäische und republikanische Koalition unter Auschluss der Rechtsextremen und europaskeptischen „Insoumis“, die im Volksfrontbündnis eine knappe Mehrheit gegenüber den proeuropäischen Sozialisten haben.
Er pokert seit Wochen hoch, denn eine solche breite Koalition wäre nur möglich, wenn sich das Volksfrontbündnis wieder spaltet und die Sozialisten /Sozialdemokraten mit den Macronisten und ihren Alliierten zusammengingen: Und sich diese Koalition auf eine Kandidatin oder einen Kandidaten als Premierminister einigen könnte. Diese Situation „inédite“ ist nicht in Sicht. Das linke Bündnis stand und steht (noch) fest zu der 37jährigen Kandidatin Lucie Castets, der Finanzdirektorin von Paris. Diese ehemalige Sozialistin und Absolventin der politischen Kaderschmiede ENA, bis zu ihrer Nominierung völlig unbekannt im Land, reist seit Wochen von Ort zu Ort, wirbt für eine Minderheitsregierung und zeigt sich kompromissbereit, im Parlament nach Mehrheiten zu suchen. Ein solches Wagnis, selbst wenn es zunächst an Misstrauensvoten scheitern sollte, täte dem französischen Parlamentarismus gut und könnte jenes demokratische Verantwortungsgefühl für die Republik stärken, das den zweiten Wahlgang geprägt hatte.
Doch Präsident Emmanuel Macron wagte bisher nichts „ganz und gar Neues“. Der politische Spielraum des Michel Barnier ist eng. Die Linken drohen bereits mit einem (aussichtslosen) Absetzungsverfahren gegen Macron und einem Misstrauensvotum, ohne überhaupt Programm und Regierung des Premierministers zu kennen. Politisch klug ist das alles nicht, denn es arbeitet der extremen Rechten vom Rassemblement National in die Hände. Marine Le Pen wartet ab und behält sich vor, den Daumen zu heben oder zu senken. Sie ist zum eigentlichen Machtfaktor in diesem Poker geworden. Nicht durch eine demokratische Wahl sondern durch diese Situation „inédite“, die der Präsident zu verantworten hat.



(In anderer Form zuerst veröffentlicht in den „bruchstücken“ am 26. Juli 2024)

Erstellungsdatum: 10.09.2024