Die Orgel ist die Königin der Instrumente. Und sie ist eine üppige Königin, mit ihrer technischen Ausstattung eine Herausforderung für jeden klangforschenden, entdeckungsfreudigen Tastenspieler. Wenn ein versierter und renommierter Jazzmusiker wie Kit Downes die Gelegenheit bekommt, auf der großen, mehrteiligen Orgel des Kölner Doms zu konzertieren, muss er nicht nur der enormen Räumlichkeit, also deren nachhalligen und tückischen Akustik, sondern auch der Bedeutung des Gebäudes Rechnung tragen. Hans-Jürgen Linke hat gehört, wie Downes die Aufgabe bewältigt.
Weil es etliche ehrwürdige Kirchen in Köln gibt und so viel bemerkenswerten Jazz, gibt es auch seit einigen Jahren Konzerte, bei denen Kirchenräume genutzt werden – die Trinitatiskirche etwa oder auch St. Agnes. Die Organisation der Cologne Jazzweek ist erfolgreich und geschickt darin, ihrer Musik neue Räume in der Stadt zu erschließen. Und jetzt gab es so etwas erstmals im größten Heiligtum der Stadt: Kit Downes, als Jazzpianist und Organist international profiliert, gab gegen Ende der diesjährigen Jazzweek ein denkwürdiges Konzert auf dem Orgelwerk des Kölner Doms. Bevor man aber mit der schicken Formel „Jazz im Dom“ zu hantieren beginnt, sollte man vielleicht noch zumindest terminologisch klarstellen, was da in der Hohen Domkirche zu Köln gespielt wurde und was nicht.
Wenn ein Organist, der als Jazzmusiker gilt, auf der Orgel improvisierte Musik spielt, ist das, was er spielt, nicht von allein Jazz. Andererseits ist Musik, die auf einer Kirchenorgel gespielt wird, nicht automatisch Sakralmusik. Was Kit Downes im Kölner Dom am späteren Abend des 3. September 2025 gespielt hat, ist Musik, die sich in einem offenen Spannungsfeld zwischen beiden Gattungen aufhält und dieses Spannungsfeld auch nicht verlassen hat.
Die Orgel ist nicht einfach ein traditionsreiches Musikinstrument. Sie war in den ersten Jahrhunderten nach ihrer Erfindung die größte und komplexeste Maschine im Abendland – erfunden und gebaut zum Lobe Gottes. Dieser Nimbus ist ihr fest verbunden.
Kit Downes, der in der Kategorie Tasteninstrumente jüngst den Deutschen Jazzpreis erhielt (übrigens in Köln), ist kein musikalischer Bilder- und Genrestürmer. Neben seiner Arbeit in Jazz-Formationen jenseits aller Mainstreams hat er ein Album mit Kompositionen für Kirchenorgel eingespielt und Solokonzerte auf der Orgel der Kathedrale von Norwich gegeben. Die Kathedrale von Downes‘ Geburtsstadt Norwich ist ein normannischer Bau, viel älter und nicht viel kleiner als der Kölner Dom, und die dortige Orgel ein ebenso modernes Instrument wie das in Köln.
Die älteste Orgel im Dom, die Querhausorgel, wurde 1948 in der nördlichen Ecke der Vierung fertiggestellt, die 30 Tonnen schwere Langhausorgel ein halbes Jahrhundert später im Dachstuhl verankert. Weitere acht Jahre später kam ein Hochdruckwerk im Westbau dazu. Die drei Instrumente können vom gleichen Spieltisch auf der Empore in der Vierung gespielt werden. Mit 143 Registern gehört das Kölner Domorgelwerk zu den größten und raffiniertesten im Lande.
Der wichtigste Teil des Instruments ist dennoch der Raum, in dem die Musik erklingt. In einem Interview mit dem Kölner Domradio sagte Kit Downes, er empfinde „tiefen Respekt vor dem, was dieser Raum ist und auch aufgrund der Bedeutung, was das Instrument in dem Raum darstellt und was es für die Menschen bedeutet.“
In der Genre-Frage gibt die räumliche Situation einen räumlichen Hinweis: Jazz wird in der Regel auf einer Bühne gegenüber dem Publikum gespielt und kommt darum für das Publikum normalerweise von vorn (dass es zuweilen auch anders geschieht wird, ist bekannt), befindet sich also gewissermaßen auf einer gemeinsamen Augenhöhe mit seinen Hörer*innen. Die Musik der Orgel dagegen kommt normalerweise für das Gros ihrer Hörer*innen eher von oben. Das ist kein Charakteristikum von Sakralmusik, sondern Folge traditioneller und gewollter räumlicher Anordnung. Musik, die in einer Kirche erklingt, kann sich nicht zuletzt dadurch Wahrnehmungs- und Wirkungsqualitäten wie Demut, Einkehr, Entgrenzung und ritualnaher Zusammengehörigkeit zu eigen machen.
Sakralmusik ist nicht beschränkt auf liturgische Funktionen, auf die Liedform und gottesdienstlichen Gebrauch, und stilistisch kennt sie kaum Beschränkungen. Die musikalische Moderne hat sich von Kirchenmusik nicht abgeschottet, sie hat stattdessen zu einer Auseinanderentwicklung von gottesdienstlicher Gebrauchsmusik und ambitionierter Komposition geführt – nicht aber zu einer Einschränkung dessen, was in sakraler Musik geschehen darf und kann.
Kit Downes‘ Konzert beginnt konsequent mit einer klanglichen Erkundung des Raumes: mit kristallinen, splittrig gespitzten Figuren im Diskant, die sich ganz oben in den gotischen Deckengebilden verfangen. Sie scheinen, während sie von dort hinunterrieseln, geradezu eine taktil scharfkantige, raspelige Oberfläche zu haben, die man nicht gern berühren würde. Im weiteren Verlauf des Konzerts zeigt sich, dass auch Pedaltöne nicht beruhigend und brummend tief unten liegen. Sie befinden sich mit ihrer rauen, steinkohligen Anmutung genauso weit oben wie die Diskantkristalle. Dort spielt im Dom die Musik.
Das Konzert dauert ungefähr eine Stunde, es ordnet sich an einer Reihe kompositorisch festgelegter Nuklei entlang, von denen einige auf choralartiges Material deuten. In ruhig gespannter rhythmischer Gliederung werden Themen präsentiert und verarbeitet und Klangschichten geschaffen. Die sangliche Referenz der Musik und die dramatisch intensiveren Entfernungsbewegungen in die überwölbende Raum-Geschichte bilden eine kontrastreiche Konzertdramaturgie. Downes variiert stark die Dynamik, hat keine Berührungsängste mit Dissonanz, und einige Male erzeugt er mit dem Hochdruckwerk eine Art Baustellengetöse, bei dem ganz andere Materialien als nur Orgelpfeifen und schwingende Luftsäulen beteiligt zu sein scheinen.
Die vielleicht ist die triftigste Bestimmung dessen, was zu hören war: eine Erkundung des akustischen kirchlichen Raumes. Wie die gotisch-neugotische Architektur des Domes selbst, die seit je den Blick nach oben zieht und dem/der Blickenden das Gefühl vermittelt, klein und weit unten zu sein, so verführt auch die Orgelmusik im Dom dazu, den Kopf in den Nacken zu legen, um nach dem zu spüren und zu suchen, was da oben geschieht.
Downes‘ Art, die Kathedrale mit Musik zu füllen, hat keine Gefühle verletzt. Aber sie hat ein zeitgenössisches Jazz-Publikum in den Dom gebracht – darunter vermutlich Menschen, die den Kölner Dom bis dato nur von außen oder als touristische Attraktion wahrgenommen haben. Es war ein Verständigungskonzert, das einige seiner Besucher*innen mit der Kirche als historisch-sakralem Raum und als Institution näher bekannt gemacht und vielleicht ein kleines bisschen versöhnt hat.
Downes äußerte sich in dem schon zitierten Radio-Interview zu seiner Konzert- und Musik-Idee: „Musik ist für mich untrennbar mit diesen Räumen und dem Gefühl verbunden, das ich habe, wenn ich in diesen Räumen bin. Ich lasse das bewusst rätselhaft in meinem eigenen Kopf, wie bei der Musik, aber ich weiß, wie ich mich dabei fühle, wenn ich in diesen Räumen bin und wie sehr ich mich dazu hingezogen fühle, in diesen Räumen zu sein.“
Weder der Künstler noch die Veranstalter noch das Domkapitel haben dieses Konzert mit einem politischen Programm zu verbinden getrachtet. Keinerlei externe Bedeutungsebene wurde dem Ereignis angetragen, nichts wurde aufgetischt, was nicht auf den Spieltisch gehörte und etwa auf außermusikalische Wirkung der Musik hätte hinweisen wollen. Insofern: ein Konzert mit sakralem Akzent im organisatorischen Rahmen eines bedeutenden Jazzfestivals – ein kulturpolitischer Leuchtturm.
Erstellungsdatum: 14.09.2025