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Dankesrede von Martin Piekar

Robert Gernhardt Preis 2024 an Martin Piekar

Martin Piekar


Martin Piekar, Foto: Charlotte Werndt

Zwei überzeugende, mit Hessen verbundene literarische Projekte werden jährlich durch die Verleihung des Robert Gernhardt Preises zum Weitermachen ermutigt. In diesem Jahr haben der als Kind polnischer Einwanderer in Bad Soden aufgewachsene Autor Martin Piekar und die Schriftstellerin Christina Griebel diese Auszeichnung erhalten. In seiner Dankesrede spricht Piekar über sein Projekt „Vom Fällen eines Stammbaums“, das seinen außergewöhnlichen Werdegang an der Seite einer pflegebedürftigen Mutter beschreibt und die Bedeutung von Sprache in prekären Lebensumständen.

Der Robert Gernhardt Preis hat für mich eine immense Bedeutung. Einen Preis in meiner Heimatstadt verliehen zu bekommen, benannt nach einem Dichter, der diese Stadt ebenso zu seiner Heimat erkoren hatte, ehrt mich sehr. 
Ich habe geweint, als ich den Anruf bekommen habe. Nein, zuerst habe ich nachgefragt, ob es wahr ist. Oder ob ich mich verhört habe. Und auch jetzt wirkt es noch etwas unwahr. Danke, dass sie alle hier mit mir die Wirklichkeit bestätigen. Hier mit dieser Geschichte.
Danke an die Jury, für diese Anerkennung. Ich freue mich, dass ich das Leben, das um uns herum und für und gegen unseren Willen geschieht, in einer Form der Worte abbilden konnte, die Menschen nahekommt. 
Gerade das Annähern an Identitäten wird der Autofiktion nachgesagt. Ich bin selber noch mit mir im Clinch wie ich den Umgang mit diesem Begriff finde. Ja, es ist Fiktion, sie ist von mir selbst abhängig, aber die Fiktion steckt auch tiefverankert in der Realität. Die Phantasie, die wir jeden Tag an den Tag legen, um die Fakten dieser Welt begreifbar zu machen oder gar zu erfassen. Was ist ein Fakt ohne all die Fiktion, die wir nutzen, um diesen Fakt in irgendeiner Weise in unsere Gedankenwelt einzubetten. Die Fakten sind nicht das Problem, die richtige Fiktion zu finden schon eher. Aber was sind Fakten ohne Menschen? Sind sie dann überhaupt noch Fakten? 

Wir Menschen erzählen Geschichten. Wir erzählen sie uns und auch immer uns selbst. Eine Tatsache, ist eine Geschichte, die wir belegen können. Aber der Tee! In einer Zeit in der Tee als Synonym für Gerüchte und Klatschgeschichten steht, merken wir, wie alltäglich, wie genüsslich, wie erhaltend das Erzählen von Geschichten ist. Das Erzählen selbst ist eine soziale Praxis auf die wir nicht verzichten sollten. Geschichten sind unser Rahmen, in dem wir erst selbst eine Handlungsmacht bekommen. Stellen sie sich einen Ort vor, der kein Ort ist. Welche Macht bietet das?
Natürlich gibt es derart viel mehr Mythen, Lügen und Verschwörungstheorien als notwendig wäre. Aber was, wenn diese Geschichten ebenso eine menschliche Notwendigkeit wären? Glauben Sie mir, keine Verschwörungstheorie möchte ich als notwendig klassifizieren, aber das Erzählen eben schon – und Verschwörungen leben vom Erzählen des vermeintlich Verborgenen. Der klassische Fall von: Was uns trennt, verbindet uns auch. 
Aber stellen sie sich ein Trüffelschwein vor. Ein Trüffelschwein, das vor ihnen auftaucht und wieder verschwindet! Was für eine Geschichte.
In dieser Geschichte stehen sie, auch wenn sie als erzählte Figur gar nicht vorkommen. Wie sehr kann ich Robert Gernhardt aus seinen Gedichten streichen? Aber wieso muss ich das? Es ist doch trotzdem Platz für mich in seinen Texten - genügend. Neben ihm und einem Trüffelschwein. 
Ähnlich ist es mit der Identitätspolitischen Debatte bei der Autofiktion. Plötzlich, so heißt es oft, stehen Einzelschicksale im Rampenlicht. Ein narzisstischer Ton der Literatur wird angeblich angeschlagen. Gerade dieses Vorurteil suche ich und auch viele andere Autor*innen zu brechen. Niemand, der nicht Teil einer Gesellschaft ist, kann etwas Tieferes über jene aussagen und jeder, der Teil dieser Gesellschaft ist, hat ein individuelles Leben.
Ja, Gesellschaft, ein fürchterlicher Begriff. Unfassbar, unbegreiflich aber die Grundkonstitution für unsere Existenz. Stellen Sie sich eine Kluft und eine Brücke vor. Gesellschaft ist gleichzeitig die Kluft und die Brücke. Wenn wir diese Brücke gemeinsam pflegen und uns aufrechterhalten, können wir uns begegnen. Wir können die Brücken auch einreisen. Wir können die Brücken überqueren. Uns begegnen. Miteinander versuchen zu sprechen. Wir können allgemein so viel machen und haben eine Macht innerhalb unserer und anderer Geschichten. Wir können aber niemals erfahren, was die Kluft an sich ist. 
Wir können nun so oft es geht die Brücke überqueren und schauen, was uns an uns und der Kluft und dem Gemeinsamen auffällt. Literatur, Romane wie Poesie können diese Momente festhalten und dann weitergetragen werden zu Menschen, die Klüfte, Brücken und Trüffelschweine anders denken. 
Läuft das Trüffelschwein bei Ihnen jetzt auch über die Brücke? Naja. Ich danke Ihnen jedendalls fürs Zuhören.

Zu danken gilt es heute meinen Freunden. Einmal jenen, die mir geholfen haben, mein Leben auf die Reihe zu kriegen – so einfach war das auch nicht immer. Dann, danke ich all jenen, die mir geholfen haben, meine Mutter zu pflegen. Und dann noch denen, und da gibt es Überschneidungen, die mir seit sechs Jahren sagen, dass dieses Projekt es wert ist und ich es weiterführen soll. Danke

Weitere Gedanken zu Auto-fiktion und auch zur Fiktionsautomatik

Seit einigen Jahren ist das Genre der Autofiktion aus dem Literaturbetrieb nicht mehr wegzudenken. Es wird immer wieder und weiter heißdiskutiert. Ist das 1 Literatur? Ist das 1 Roman? 1 Memoir?
Die Biographie als literarische Form unterliegt einem Sanktum der Wahrheit – auch wenn sich hier die Frage stellen lässt, wie Gefühle, Vermutungen und Erinnerungen dieser Form von Wahrheit entsprechen. Aber um das gleich abzuwürgen, wenn wir von Wahrheit sprechen, wissen wir meist nicht, wovon wir sprechen. Ist es die individuelle Wahrheit? Dann stimmt einfach alles für mich. Ist es die gesellschaftliche Konvention? Dann stimmt auch Unfaktisches auf das wir uns geeinigt haben oder den drunterliegenden Fakt sogar kollektiv vergessen haben – vergessen wollen? –. Naturkonstanten? Je länger wir diese beobachten, desto mehr merken wir, dass wir a) diese durch die Beobachtung selbst beeinflussen, 2. Dass diese sich im Laufe wissenschaftlicher Forschung verändern und drittens gibt es oftmals Ausnahmen, die wir allesamt erst erkunden müssen.

Die Aufzählung mag eindeutig falsch sein, doch gerade Wahrheit soll ja eindeutig sein, nämlich wahr. Wie gehen wir mit ambiguen Wahrheiten um? Ich weiß, dass dies Krisen auslöst bei manchen Menschen. Wer auf Wahrheit fußen will, muss diese erstmal lokal festmachen. 
Ich schreibe nun seit Jahren an einem Text, den ich als Autofiktion einsortiere. Ich bezeichne es so aus modischen Gründen. Das mögen keine guten sein. Aber Menschen meinen dann etwas zu verstehen. Vielleicht soll ich dem nicht so entgegenkommen?
Wenn ich sage, ich schreibe Poesie, kann sich fast niemand etwas darunter vorstellen. Was schreibst du denn für Gedichte? – fragt jemand und darauf sollte ich in Zukunft nur mit einem Gedicht antworten. Jedenfalls sortiere ich mich ein, weil Menschen Einsortierungen schätzen, um sich in der Welt zu orientieren. Manchmal ist man aber zu zuvorkommend. Literatur muss nicht geordnet oder sortiert sein. Muss es dann das Sprechen darüber? Ach, mein Sprechen überhaupt sortiert sich immer erst im Nachhinein. 
Wieso schreibe ich Autofiktion? Ich schreibe an einem Roman, um die Geschichte darin selbst glauben zu können. Das Schreiben schafft eine Geschichte, mit der ich mich tiefer auseinandersetzen kann. Ich kann die Geschichte reflektieren, modellieren, korrigieren. Ja, die Wahrheit ist nicht die Ziellinie, die es zu erreichen gilt. Autofiktion beginnt beim Erinnern, unsere Erinnerung ist eine sich verändernde Masse, die jedes Mal, wenn wir sie anfassen, sich vertraut vorkommt, auch wenn sie ihre Form verändert hat. 

Ich schreibe die Geschichte, damit ich sie selbst glauben kann. Dann könnte ich sie auch in die Schublade legen. Autofiktion ist für das Publikum die Möglichkeit an das eigene Leben zu glauben. Es mag manchmal sehr plump sein, aber manchmal auch sehr fein. Natürlich kann jedes Stück Literatur eine Projektionsfläche oder eine Fremdheitserfahrung sein. Doch diese Instrumentalisierung wird der Kunst nicht gerecht. Das ist der erste Schritt von vielen möglichen. Und vor allem sind keine Schritte vorgeschrieben. 
Doch was ist das eigene Leben der Leserschaft? Ebenso eine Geschichte. Autofiktion ist für die Leserschaft vielleicht auch die Möglichkeit die eigene Geschichte zu glauben.

Viele Menschen erzählen eine Geschichte, die mit ihnen zu tun hat, weil sie selbst den Glauben daran, so wie die Kontrolle darüber haben möchten. Manchmal ist der Größenwahn des Autorentums heilsam.
Natürlich muss eine Form von Kritik folgen: Manche kritisieren autofiktionale Texte, weil Autor*innen keine Phantasie zu haben scheinen. Sie schreiben einfach aus ihren eigenen Erfahrungen und würden nichts mehr Kreatives schaffen. Erstens denke ich, dass der Umgang mit eigenen Erfahrungen, Gefühlen und Beziehungen ein kreativer Vorgang ist. Mein Leben gibt es nur, weil ich kreativ bin. Zudem funktioniert Autofiktionalität nicht über das bloße Aufschreiben des Geschehens. Was ist denn bitte das Geschehen? Und wenn ich einfach nur aufschreiben würde, wie mein Tag heute war, wäre das beizeiten unerträglich für die Leserschaft. Teetrinken, Training, Essen machen, Verdauungsbewegungen, Doomscrolling, Schreiben, Schreiben, Schreiben, Teetrinken, hieran sitzen. Das ist noch weit weg von Autofiktion.

Das eigene Leben ist eine Fiktion. Wir erleben das Jetzt und gleichzeitig bilden wir die Sinn- und Bedeutungseinheiten im Hirn. Die Vorstellung des Lebens geschieht gleichzeitig mit dem Leben selbst. Und das zu ordnen, Zusammenhänge zu erkennen und ein Narrativ zu spinnen, das über einen Menschen hinweg Sinn macht, das ist schon eine Kunst. Wir machen das übrigens an mehr Stellen als nur der Literatur. Wir leisten eine wahnsinnige Arbeit. Die läuft – jedenfalls bei mir – ganz von selbst. Mein Leben ist eine dauerhafte Fiktionalisierung. – nur so kann ich das Reale überhaupt fassen. 
Dann gibt es das Argument, dass diese Art Literatur einen identitätspolitischen Charakter habe. Identitätspolitisch wird in diesem Zusammenhang als Vorwurf der ersten Person verstanden. Das Ich will im Mittelpunkt stehen, literarisch, politisch etc. Manche behaupten, diese Form des Ausstellens der ersten Person würde diese, von der Gemeinsamkeit, der Universalität der menschlichen Gesellschaft abspalten und so würden wir uns alle voneinander entfernen. Das Problem daran ist der Universalitätsgedanke als Uniformitätsgedanke. Das Universelle des Menschen ist, dass wir in einer Gemeinschaft leben und doch sehr unterschiedlich sind. Diese Binsenweisheit wird aber nicht ungültig gemacht, dadurch, dass sie eine ist.
Wichtig scheint mir dabei, dass Autofiktion eine erste Person oder gar mehrere derart herausstellen kann, dass sie verbindend für die Leserschaft wirken könne. Das wäre eine Autofiktion, die über das Auto hinauswill; das Selbst, um über das Selbst hinauszugelangen. So betrachtet, ermöglicht die Autofiktion die Erweiterung der zwischenmenschlichen Erfahrung. Außerdem ist der Vorwurf der Ersten Person ein wirklich irrwitziger. Ohne die Erste Person, das Ich, gäbe es keine Wissenschaft, keine Mathematik, keine Literatur. Es braucht dieses Ich, das arbeitet. Der identitätspolitische Vorwurf, auch meist im Politischen, gilt der Diskreditierung einer ersten Person. Diese Kritik wird auch von einer ersten Person hervorgetragen. 
Aber wäre nicht an der Fiktion genauso zu lernen wie an der Autofiktion? Doch, natürlich. Und zwar, weil die Geschichte und das Erzählen das Kreative, das Lehrreiche, das Unterhaltsame beinhalten.

Es gibt ja auch die Möglichkeit für eine statistische Wahrheit oder eine Gaußsche Normalverteilung zu argumentieren. Das wären ja Zahlen, heißt es, die seien universell und wahr abseits von Emotionen und Perspektive. Aber auch diese Verteilungen und Statistiken werden von Menschen erstellt. Auch hier ist die erste Person von Bedeutung. Und Statistiken leben nicht nur von Erhebung, sondern gerade auch von Interpretation. Mehr und mehr wird die erste Person, gerade statistisch, von leitender Wirkung.
Fakten sind keine Fiktion wird ebenso oft als Kritik geäußert. Fiktion aber, ist mehr als ein ausgedachter Satz. Fiktion ist eine Lüge, die hilfreich ist. Wenn ich etwas über Quantentheorie lerne, dann ordne ich das mental in die Weltordnung ein, die ich mir mental erstelle, damit ich die Welt, in der ich lebe etwas besser für mich organisieren kann. Wenn ich ein Atommodell (was an sich schon Fiktion ist), ist meinem Kopf erweitere durch Wissen, dann menge ich das Reale mit dem Faktischen an oder auch das Faktische mit dem Realen. Die Welt in meinem Kopf und ihre Ordnung, ist eine Fiktion, selbst wenn sie den Naturgesetzen absolut entsprechen würde. Mein Kopf erstellt eine Lüge über die Welt, damit ich in der Welt zurechtkomme. Wir brauchen die Fiktion, um mit dem Realen umzugehen. Wir brauchen sowohl die Differenz als auch den Übergang von Realem ins Fiktionale und zurück. Das Reale gibt es wegen des Fiktionalem und das Fiktionale wegen des Realem. Und diese Fiktionalisierung der Welt geschieht ganz von selbst, automatisch. 
Wenn jemand denkt, die Autofiktion wäre die Wahrheit, dann würde ich dieser Person zustimmen, unter der Voraussetzung, dass Wahrheit = Fiktion. Eine, voll erbaulicher oder niederschlagender oder aufklärender Zusammenhänge, erzählte Geschichte. 

Immer, wenn mich jemand fragt, ob diese Geschichte wirklich so passiert war, dann frage ich, ob die Geschichte eine schlechtere ist, wenn oder wenn nicht. Die meisten Menschen antworten damit, dass die Geschichte schlechter wäre, wenn sie nicht wahr wäre. Es ändert nichts an der Geschichte, nur an unserer Einschätzung. Wir haben diesen Wahrheitsfetisch. Eine moralische Beurteilung der Geschichten nach vermeintlich wahrem Fundament. Nichtsdestotrotz kann es wichtig und sehr kunstvoll sein, das eigens Erlebte zu Formen. Man darf dabei keine Angst vor der Wahrheit haben.

Die Wahrheit als verbindendes Element der menschlichen Gesellschaft? Ich vermute, dass das Erzählen das verbindende Element der menschlichen Gesellschaft ist. Die Geschichten konstituieren und konditionieren uns. Wenn wir Mythen betrachten, sind diese ebenso wichtig für unsere Gesellschaft auch in Anbetracht, dass wir alle darüber klar sind, dass sie keiner faktische Historie darstellen. Wir erzählen Geschichten für die uns begleitenden aber ebenso uns folgenden. Höhlenmalereien sind ebenso schon solche Geschichten und ebenso auch Fiktion. Wir erzählen mehr und mehr Geschichten, das zeigt auch die Entwicklung von social Media wie Instagram, TikTok, YouTube, damit wir unser Leben mehr und mehr fassen können. Wir glauben an unser Leben, weil wir an die Geschichten anderer glauben. Reziprokes glauben ist reziprokes Leben. 

Ich schreibe Autofiktion, damit ich selbst an die Geschichte glauben kann.

Ich schreibe Autofiktion, damit die Leserschaft an ihre eigene Geschichte glauben kann.

Ich schreibe, um zu zeigen, dass ich am Leben bin.

Robert Gernhardt

Trost im Gedicht

Denk dir ein Trüffelschwein,
denks wieder weg:
Wird es auch noch so klein,
wird nie verschwunden sein,
bleibt doch als Fleck.

Was je ein Mensch gedacht,
läßt eine Spur.
Wirkt als verborgne Macht,
und erst die letzte Nacht
löscht die Kontur.

Hat auch der Schein sein Sein
und seinen Sinn.
Mußt ihm nur Sein verleihn:
Denk dir kein Trüffelschwein,
denks wieder hin.

 

Siehe lyrikline: Robert Gernhardt liest sein Gedicht

 

Erstellungsdatum: 01.11.2024