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Gabriel Attal in der Ukraine

Rückkehr nach Odessa

Jutta Roitsch


Postkarte der UdSSR Post 1965, A. F. Belogo: Die Bevölkerung von Odessa begrüßt den Panzerkreuzer Potemkin. Foto: HOBOPOCC auf wikimedia commons

Weil wir keine Bäume sind, haben wir keine Wurzeln, sondern Beine, mit denen wir uns, sobald wir laufen können, mobil halten. Das ist insofern von Vorteil, weil wir so auch davonlaufen können, wenn unsere Lust, unser Wille, unsere Sehnsucht oder die widrigen Umstände es erfordern. Gelangt man auf diese Weise in die Fremde und stellt sich geschickt an, kann man dort sogar Premierminister werden. Jutta Roitsch schreibt über den Besuch Gabriel Attals in der Ukraine.

 

„Ob die Franzosen wissen, dass sie einen ukrainischen Premierminister haben?“, fragte Stéphane Séjourné seinen Freund. Nur wenige Tage zuvor war der 34jährige Gabriel Attal am 9. Januar zum neuen Premierminister ernannt worden und die erste Reise, auf die er Séjourné als neuen Außenminister schickte, war die nach Kiew. Nun, neun Monaten später, fährt er selbst in die Ukraine, nach Kiew und Kurisove, fünfzig Kilometer nördlich von Odessa, der Stadt, die der große Schriftsteller Isaak Babel einmal „eine Art Marseille oder Neapel“ am Schwarzen Meer genannt hat. Attal, der jüngste und kürzeste Premierminister Frankreichs, ein Ukrainer?

Ariane Chemin, eine mitreißende Reporterin von Le Monde, hat die Geschichte aufgegriffen und ist ihr nachgegangen (14. September). Und sie führt in die jahrhundertealte, zutiefst europäische Geschichte dieser Stadt und ihrer Umgebung. Sie weckt Erinnerungen nicht nur an den Kultfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein, sondern auch an die Stadt, in der Menschen zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer zuhause waren, Geflüchtete, Verbannte, Handeltreibende und immer wieder Heerscharen von Soldaten und Söldnern. Aber auch Griechen, Römer und Byzantiner, Christen, Juden und Moslems aus allen Ecken des Osmanischen Reiches.
Die Literatur ist voller Geschichten, die in dieser Stadt und ihrer Umgebung spielen: Im Jahr 8 nach Christus verbannte der römische Kaiser Augustus den Dichter Ovid nach Odessa. Der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr spürte dem dort verschwundenen Autor der „Metamorphosen“ in „Die letzte Welt“ nach. Das Schicksal einer zerfallenden jüdischen Familie zeichnete Wladimir Jabotinsky (1936, neu 2012) in „Die Fünf“ nach: eine bewegende Geschichte, aufgeschrieben von einem militanten, höchst umstrittenen Zionisten, der Odessa verließ, um im britischen Mandatsgebiet Palästina eine brutale, antiarabische Untergrundbrigade aufzubauen: Die Gründung eines wehrhaften jüdischen Staates Israel erlebte er nicht mehr: Er starb 1940 an einem Herzinfarkt in New York. Was treibt ihn nach Kiew, Odessa und Kurisove?

Erstellungsdatum: 03.10.2024