Weil wir keine Bäume sind, haben wir keine Wurzeln, sondern Beine, mit denen wir uns, sobald wir laufen können, mobil halten. Das ist insofern von Vorteil, weil wir so auch davonlaufen können, wenn unsere Lust, unser Wille, unsere Sehnsucht oder die widrigen Umstände es erfordern. Gelangt man auf diese Weise in die Fremde und stellt sich geschickt an, kann man dort sogar Premierminister werden. Jutta Roitsch schreibt über den Besuch Gabriel Attals in der Ukraine.
„Ob die Franzosen wissen, dass sie einen ukrainischen Premierminister haben?“, fragte Stéphane Séjourné seinen Freund. Nur wenige Tage zuvor war der 34jährige Gabriel Attal am 9. Januar zum neuen Premierminister ernannt worden und die erste Reise, auf die er Séjourné als neuen Außenminister schickte, war die nach Kiew. Nun, neun Monaten später, fährt er selbst in die Ukraine, nach Kiew und Kurisove, fünfzig Kilometer nördlich von Odessa, der Stadt, die der große Schriftsteller Isaak Babel einmal „eine Art Marseille oder Neapel“ am Schwarzen Meer genannt hat. Attal, der jüngste und kürzeste Premierminister Frankreichs, ein Ukrainer?
Ariane Chemin, eine mitreißende Reporterin von Le Monde, hat die Geschichte aufgegriffen und ist ihr nachgegangen (14. September). Und sie führt in die jahrhundertealte, zutiefst europäische Geschichte dieser Stadt und ihrer Umgebung. Sie weckt Erinnerungen nicht nur an den Kultfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein, sondern auch an die Stadt, in der Menschen zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer zuhause waren, Geflüchtete, Verbannte, Handeltreibende und immer wieder Heerscharen von Soldaten und Söldnern. Aber auch Griechen, Römer und Byzantiner, Christen, Juden und Moslems aus allen Ecken des Osmanischen Reiches.
Die Literatur ist voller Geschichten, die in dieser Stadt und ihrer Umgebung spielen: Im Jahr 8 nach Christus verbannte der römische Kaiser Augustus den Dichter Ovid nach Odessa. Der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr spürte dem dort verschwundenen Autor der „Metamorphosen“ in „Die letzte Welt“ nach. Das Schicksal einer zerfallenden jüdischen Familie zeichnete Wladimir Jabotinsky (1936, neu 2012) in „Die Fünf“ nach: eine bewegende Geschichte, aufgeschrieben von einem militanten, höchst umstrittenen Zionisten, der Odessa verließ, um im britischen Mandatsgebiet Palästina eine brutale, antiarabische Untergrundbrigade aufzubauen: Die Gründung eines wehrhaften jüdischen Staates Israel erlebte er nicht mehr: Er starb 1940 an einem Herzinfarkt in New York. Was treibt ihn nach Kiew, Odessa und Kurisove?
Und nun bereist Gabriel Attal, der bei der Amtsübergabe am 6. September an Michel Barnier (73) seine Bitterkeit über die sprunghafte Politik des Staatspräsidenten Emmanuel Macron und die verlorenen Parlamentswahlen nicht verhehlte, zehn Tage später das Land. Was treibt ihn nach Kiew, Odessa und Kurisove? Offiziell besuchte er in Kiew zusammen mit einer kleinen Delegation das 20. Treffen der „Yalta European Strategy“(YES)-Konferenz, die der ukrainische Milliardär Victor Pinchuk seit einem Jahrzehnt organisiert und auf der Präsident Wolodymyr Selenskyj
einen Plan für ein Kriegsende skizzierte (SZ vom 16.9.). Aber das eigentliche Reiseziel Attals galt Odessa und einem 1820 gebauten Landsitz im Süden des Landes, den sein Ahnherr Ivan Kouris (1787 bis 1836) errichten ließ.
Ein lokaler Geschichtsforscher erzählte der vorausgereisten Reporterin, der griechische Ahnherr habe in einem Kosakenheer erfolgreich auf der Seite des Zaren gegen die Türken gekämpft (zwischen 1787 und 1792) und zum Lohn den Adelstitel wie Ländereien im fruchtbaren Weizenland bei Odessa erhalten. Aus dem Landsitz wurde unter dem kunstsinnigen Enkel Ivan 1892 ein Schloss im orientalisch-gotischen Fantasiestil (so Ariane Chemin vor Ort). Die wertvolle Sammlung der Bilder und historischen Schriften von Gogol, Puschkin und selbst Voltaire verschwanden in Petersburger Archiven und Museen, berichtet der lokale Geschichtsforscher der Reporterin. Stalins Terror, der in den 1930er Jahren in der Ukraine wütete, löschte nicht nur das freie Bauerntum, sondern auch die Erinnerung an die europäische Geschichte des Landes aus: Eingeebnet wurden selbst die Gräber derer von Kouris, nur eine Marmorstele an der kleinen Familienkirche erinnert heute an die fünf Generationen, die hier gelebt haben.
Aus dem griechischen Kouris ist ein „de Couriss“ geworden, der Name von Attals Mutter Marie, die sich gerne Marika nennen lässt. Wie und wann die mütterliche Familie des ehemaligen Premiers nach Frankreich gekommen ist, erzählt Ariane Chemin (noch) nicht. Vermutlich emigrierten die weitverzweigten Kouris in den russischen Revolutionskriegen des 20. Jahrhunderts oder während des stalinistischen Terrors nach Frankreich und französisierten ihren Namen, wie so viele russische Adelsfamilien. Aber in der Ukraine ist es bei „Kourisowo“ geblieben.
Und der Ort putzt sich in diesen Tagen nicht nur wegen der hohen Besucher heraus. Einer der beiden neuen Besitzer, der 54jährige Valerij Kondrutschuk, bewahrte das Schloss und die Ländereien, die er 2013 aus Mitteln einer Kouris-Stiftung für 115 000 Euro (so Le Monde) kaufte, nicht nur vor dem Verfall: Er plant eine Ökoresidenz mit Hotel, Restaurant und Pferden. Und träumt von Touristen und Menschen wie Gabriel Attal, die in diesem Land nach ihren Ahnherren forschen und dabei die jahrhundertealte, zutiefst europäische Geschichte des Landes wie der Stadt Odessa neu entdecken. Für einen Moment scheint der Krieg weit weg zu sein in Kurisove.
Der Beitrag erschien zuerst in den „bruchstücken“ am 22. 09.2024
Erstellungsdatum: 03.10.2024