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Cornelia Wilß im Gespräch mit dem Künstler Alfred Ullrich

Rußflocken, die um die Erde schweben

Cornelia Wilß


Alfred Ullrich. Foto: Alexander Paul Englert

Der vielseitige Künstler Alfred Ullrich lebt in Dachau. In seiner Druckgrafik spiegelt sich in abstrakter Darstellung das bis heute gebrochene Verhältnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft zur Minderheit der Sinti und Roma. Ein zentrales Thema in seinem Schaffen ist die Familiengeschichte: Die meisten seiner Angehörigen wurden während des Nationalsozialismus in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Cornelia Wilß traf den Künstler mehrfach, zuletzt in Berlin im Mai 2025 anlässlich eines Künstlergesprächs mit dem Galeristen Moritz Pankok.

 

Ihre Mutter, Katharina Endress, war eine österreichische Sintezza. Sie hatte ein bewegendes Leben…

Meine Mutter wurde im Jahr 1916 in Wien geboren; sie hat ihre Eltern, zwölf ihrer Geschwister und ihren ersten Sohn in den deutschen Konzentrationslagern verloren. Ich bin stolz darauf, dass meine Mutter, die die österreichische Staatsbürgerschaft hatte, Widerstand gegen das Nazi-Regime geleistet hat.


Familie der Mutter von Alfred Ullrich Katharina Endress . Foto: Alfred Ullrich

Das Unrecht ist nicht zu Ende – das Leid ist nicht zu Ende

„Ich möchte heute erinnern an Katharina Endress, geboren 1916 in einer kinderreichen Sinti-Familie in Österreich. Katharina Endress, die Sie auf diesem Foto sehen, wurde als junge Frau zunächst in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt und dann nach Buchenwald – zusammen mit drei ihrer Schwestern. […] Es ist fast ein Wunder, dass sie all die Jahre in den Konzentrationslagern überlebt hat und im April 1945 von US-amerikanischen Truppen auf dem Todesmarsch in Meerane befreit wurde. Katharina Endress, wie auch die wenigen Geschwister, die überlebt haben, und zum Teil jetzt auch in der Folge ihre Kinder und Enkel-kinder, sind dauerhaft traumatisiert durch das, was damals geschehen ist. Das Unrecht ist nicht zu Ende – das Leid ist nicht zu Ende. Es wirkt in den Familien fort. Auch über den Tod von Katharina Endress im Jahr 2012 in Wien hinaus.“

Ansprache von Kirchenrat Dr. Björn Mensing (Pfarrer und Historiker an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, Beauftragter der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für Gedenkstättenarbeit) im Ökumenischen Gottesdienst auf dem ehemaligen KZ-Appellplatz, Gedenkstätte Buchenwald, 18. Juli 2021

Wie hat Ihre Mutter Widerstand geleistet?

Als sie im „Arbeitslager“ Ravensbrück war - das größte Konzentrationslager für Frauen - musste sie in der „Näherei“ SS-Uniformen nähen. Wenn sie einen Fehler machte, wurde sie derart geschlagen, dass sie davon psychisch und körperlich bleibende Schäden davontrug. Später war sie im Altenburger Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald und musste für den Rüstungsbetrieb HASAG Munition für den Krieg produzierten. Meine Mutter hat Blindgänger produziert und im Rahmen ihrer damaligen Möglichkeiten Widerstand geleistet. Sie sprach oft darüber, wie sie gelitten hat. Sie hatte zusehen müssen, wie ihre Schwestern im KZ starben, und sie konnte ihnen nicht zur Seite stehen. Eine der Schwester, Hermine, wurde durch die chemischen Substanzen vergiftet. Auch meine Mutter erlitt durch diese Substanzen bleibende gesundheitliche Schäden. Nach ihrer Befreiung lernte sie auf dem Weg nach Wien meinen Vater in einem Lager für Displaced Persons in Enns in der Nähe von Linz kennen. Angeblich war er deutscher Soldat, angeblich war er sogar bei der SS gewesen. Mit der gemeinsamen Geschichte meiner Eltern habe ich mich deswegen nie identifizieren können. Was bin ich? Wer bin ich?
Jedenfalls ist sie mit meinem Vater nach Schwabmünchen gezogen, wo sich viele Sudetendeutsche nach dem Krieg niedergelassen hatten, die nicht mehr zurück ins Sudetenland konnten. Die beiden haben geheiratet, daher ist mein Nachname Ullrich. Meine Schwester Lilly und ich sind in Schwabmünchen geboren worden, meine Schwester Puppa stammt aus einer anderen Beziehung. Die Ehe hat nicht gehalten. Eine Weile pendelte meine Mutter zwischen Schwabmünchen und Wien hin und her, bis sie schlussendlich mit uns Kindern in Wien geblieben ist.


Caravan (Kaltnadelradierung) ist eines der wenigen figürlichen Arbeiten von Alfred Ullrich. Ein Diptychon dieses Motivs hat seine Heimat in der Sammlung der Stiftung Kai Dikhas gefunden. Foto: Stiftung Kai Dikhas

Wo lebten Sie dort?

In den ersten Jahren lebten wir zu viert in einem Planwagen, im Wienerischen heißt der Plochenwogn - ein Wohnwagen mit einer einfachen Plane bespannt, der vorn einen Kutschbock hatte. Die Frauen haben im Wageninneren, ich habe im Schragl geschlafen. So nennt man das Gestell am Ende des Wagens, wo üblicherweise Stroh und Heu mitgeführt werden. Das war ein sehr gesunder Schlafplatz [lacht]. Ich habe jeden Abend den Sonnenuntergang genießen können und in das Sternenzelt über mir geblickt.


Flammruß eine Installation von Alfred Ullrich. Foto: Stiftung Kai Dikhas

 

Sie sind in Dachau und darüber hinaus inzwischen ein bekannter Künstler. Aber das war nicht immer konfliktfrei ……

2006 habe ich mich in Dachau mit der Ausstellung »Transidentities« als Künstler geoutet, der aus einer Wiener Sinti-Familie stammt. Der Hintergrund dieser Ausstellung, die später auch bei Kai Dikhas zu sehen war, waren die unhygienischen Verhältnisse auf dem ehemaligen sogenannten »Landfahrerplatz» in Dachau.

Mit Hilfestellung der Künstlervereinigung Dachau habe ich erreicht, dass das Schild mit der diskriminierenden Aufschrift »Landfahrerplatz kein Gewerbe« (das Wort »Landfahrer« wurde zur NS-Zeit als Synonym für »Zigeuner« verwendet) entfernt wurde.
Seit 1984 bin ich Mitglied in der Dachauer Künstlervereinigung (https://kavaude.de/) und im BBK München und Oberbayern und beteiligte mich auch an Ausstellungen von Dachauer Künstler*innen, die mit ihren Arbeiten die (noch) nicht erfolgte Rezeption Dachaus in der Geschichtsschreibung aufarbeiten. Die kunstinteressierte Öffentlichkeit zeigte sich wesentlich aufgeschlossener als manche lokalen Politiker. Mit den Jahren hat sich aber vieles zum Positiven gewandelt. Mittlerweile werde ich ab und an mit der Gestaltung in öffentlichen Gebäuden beauftragt. Außerdem werden in Ausstellungen Werke von mir angekauft, das sehe ich als Erfolg auch in der Wahrnehmung der Belange der Sinti und Roma.

„Flammruß“– so heißt eine Installation, die kürzlich in der Ausstellung RrOMA LEPANTO bei Kai Dikhas in Berlin zu sehen war.

Ja. Dieser „Flammruß“ entstand im Rahmen einer Künstlerresidenz vor circa zwei Jahren. Ich war damals vom Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg und dem Goethe-Institut Mannheim eingeladen. Ein Heidelberger Künstler hatte mir sein Atelier zur Verfügung gestellt. Von der Herstellung von Platten für den Kupferdruck abgeleitet habe ich diese Papptafeln mit Leinwand beklebt und Fackeln, die in Terpentinbalsam getränkt waren, gerußt. Man riecht diesen Vorgang kilometerweit. Dabei entstehen Ruß- und Rauchpartikel – für mich war das so, weil ich vorher bei einer Gedenkveranstaltung in Auschwitz-Birkenau war, wo man diese Schornsteine der Verbrennungsöfen besichtigen konnte. Für mich symbolisieren diese Rußflocken meine unbekannten Vorfahren, da sie meiner Meinung nach in der Erdatmosphäre schweben. Und wir atmen sie ein und wieder aus. Wenn wir Sinti und Roma nicht immer wieder die Vernichtung ansprechen, wird es in unserer Gesellschaft kaum erwähnt. Es war für mich eine gute Gelegenheit, den „Flammruß“ hier in der Ausstellung zu zeigen, die die Rolle der versklavten Gitanos, die zum Rudern von Kriegs-Galeeren bei der Seeschlacht von Lepanto gezwungen wurden.

Die Seeschlacht von Lepanto fand am 7. Oktober 1571 im Ionischen Meer vor dem Eingang zum Golf von Patras bei Lepanto (griechisch Nafpaktos, türkisch İnebahtı) im heutigen Griechenland statt. Die christlichen Mittelmeermächte, organisiert unter Papst Pius V., mit Spanien an der Spitze, errangen hier einen überraschenden Sieg über das Osmanische Reich. Oberbefehlshaber auf der Seite der Heiligen Liga von 1571 war Don Juan de Austria, auf osmanischer Seite Kaptan-ı Derya Ali Pascha, der in der Schlacht fiel. Sie ist die Seeschlacht mit den meisten Gefallenen an einem Tag.

Mehr zur gleichnamigen Ausstellung bei Kai Dikhas: TEXTOR

Die Roma und Sinti teilen seit Jahrhunderten immer wieder das gleiche Schicksal. Für mich zieht sich der Boden der Verfolgung, Diskriminierung, Verschleppung, Versklavung der Sinti und Roma bis in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts hinein.

 

 

Erstellungsdatum: 14.08.2025