Wir entdecken zumeist das, was ohnehin unverdeckt zutage liegt, weil wir es zuvor nicht wahrgenommen haben oder die Gelegenheit dazu nicht hatten. So ist jede Entdeckung eine Bereicherung der Sinne und der Erfahrung, egal, ob es sich um den Musiker, Regisseur und Maler Franco Battiato handelt oder um Zucchini, Bohnen, einen schwarzen Erlöser oder Alberto Burris „Cretto in Gibellina“ in Frankfurt. Eldad Stobezkis Entdeckungen können auch unsere sein.
Ein verregneter Septembernachmittag in Sanremo. Wir blieben in der Ferienwohnung. Der Gewinn war ein Porträt des Sängers Franco Battiato (1945-2021) im Fernsehen. Dieses Multitalent war Liedermacher, Komponist, Filmregisseur, Maler und parteiloser Politiker. Musikalisch durchquerte er eine Vielzahl von Genres. Seine Texte sind kritisch, melancholisch und lyrisch und bedienen sich aus den Quellen vieler Kulturen der Welt. Ich entdeckte den italienischen Leonard Cohen.
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An der ligurischen Küste fallen die Alpen direkt ins Meer. In der Markthalle von Sanremo entdecke ich Zucchini- und Bohnensorten, die man in Deutschland nicht bekommt. An einem Stand gab es Zitronen, die ein ganzes Jahr am Baum hingen. Ich bin im Land, wo die Zitronen blühen.
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In der Kathedrale San Siro wird der schwarze Jesus am Kreuz verehrt. Die rußenden Wachskerzen wurden inzwischen durch elektrische Kerzen ersetzt. Steckt man die auf einen Sockel, brennt eine einfältige kleine elektrische Glühbirne. Ich nehme das kleine Heft mit Gebeten und Fotos des Kreuzes. Das Heft gibt es nur auf Italienisch. Gehen die internationalen Casino-Besucher nicht in die Kirche? Ich bin beruhigt, als ich in dem Heft lese, dass ER hier ist, für den Fall der Auferstehung vieler in Israel. Aber so weit ist es noch nicht. Jetzt fallen erst wieder viele Zivilisten und Soldaten auf beiden Seiten der Grenze. Während wir an der Piazza San Siro einen Espresso trinken, können meine Gedanken an den Krieg in Israel und Palästina nicht zur Ruhe kommen. Die leichte Brise vom Mittelmeer, das nun nur wenige Schritte von uns entfernt ist, trocknet den Schweiß.
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Die aktuelle Ausstellung im Frankfurter Kunstverein heißt: „Das Anwesende des Abwesenden, Materie und Spuren – Abdrücke des Lebens in der Zeit.“ Ich möchte nur ein Kunstwerk aus dieser Ausstellung erwähnen, das mich zutiefst berührt hat.
Der Grande Cretto di Gibellina von Alberto Burri ist eines der größten Kunstwerke der Welt und misst 270 x 310 Meter. Wie ein Leichentuch bedeckt der weiße Beton die Trümmer des kleinen Dorfes, das durch das Erdbeben vom 15. Januar 1968 zerstört worden ist.
Der Cretto von Alberto Burri ist aus den Steinen und Gegenständen errichtet, die einst Gibellina formten: Straßen, Plätze, Häuser, Ställe, Geschäfte, Werkstätten, Schulen, Kirchen, ein Barocktheater und eine Burg aus dem 14. Jahrhundert. Der Cretto ist die verlorene Heimat und das Grab eines kleinen Dorfes in Westsizilien. Das Video zeigt den weißen Umriss des Dorfes, das begehbar ist wie das Holocaust-Mahnmal von Peter Eisenman in Berlin. Dazwischen sieht man alte Filme von Dorffesten. Die einfachen Menschen in ihren Sonntagsanzügen, und auch die Jungs tragen Krawatte. Was feierten diese Leute? Eine Hochzeit, einen katholischen Feiertag? An einer Wand hängen Fotos von älteren Menschen, die früher in Gibellina wohnten. Starke Persönlichkeiten, die teilweise mit ihrem Schicksal fertig geworden sind, andere würden das Dorf wiederaufbauen. Da muss ich an die Frankfurter Altstadt denken, die nicht durch Naturgewalt zerstört wurde. Auch hier wollten die Menschen die Zeit zurückdrehen und sie schafften es. Gibellina wird nie mehr wiederaufgebaut. Und was passiert mit dem zerstörten Gaza und den vielen Orten im Gazastreifen und im Norden Israels? Wenn ein Erdbeben ein Dorf zerstört, hadert man mit Gott. Wenn der Krieg wütet, hadert man mit der Menschheit.
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In „Marseille 1940“ beschreibt Uwe Wittstock das Rettungsnetzwerk von Varian Fry, der die Flucht von 2000 jüdischen Intellektuellen organisiert hat. Daran muss ich denken, wenn ich höre, dass die israelische Elite ihre Heimat verlässt, auch wenn die Umstände jetzt ganz andere sind.
Eldad Stobezki
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Gebunden, 150 Seiten
ISBN 9783949671159
Edition-W, Frankfurt, Frankfurt 2024
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Erstellungsdatum: 18.11.2024