Der Lyrikkritiker Michael Braun nannte die Website lyrikline.org einmal eine „stetig wachsende auditive Bibliothek der Weltpoesie“. Kürzlich wurde bekannt gegeben, dass seit der Eröffnung von lyrikline.org im November 1999 durchschnittlich in jeder der vergangenen 1300 Wochen eine neue Stimme hinzugekommen sei – und in 378 Wochen sogar zwei. Nun ist dort auch die Stimme der 1954 in Leipzig geborenen Jayne-Ann Igel erfasst. Es war höchste Zeit. Aus diesem Anlass hielt Alexandru Bulucz eine Kurzlaudatio.
Als ich vor nunmehr dreieinhalb Jahren Jayne-Ann Igels Gedichtband „alles lichter winter“ besprochen hatte, schrieb ich Folgendes dazu: „Das Faszinierendste an Jayne-Ann Igels Gedichtband ist sein Form-Inhalt-Widerspruch: Die Wohltemperiertheit des poetischen Stils macht weder vor Abgesängen noch vor bedrückenden oder hochexplosiven Themen halt: Das sind Fragen nach der Herkunft, dem „gefühl der versprengung“, dem Eingehegtsein oder dem Klimawandel.“
Was fällt mir nun, neben deren paradoxer Wohltemperiertheit, an den zehn Prosagedichten auf, die Jayne-Ann Igel für lyrikline.org eingesprochen hat? In erster Linie fällt mir bei ihren Texten neueren Datums, die zwischen Februar 2023 und Januar 2024 entstanden sind, deren Grundtraurigkeit auf, eine Traurigkeit also als Wesensmerkmal der menschlichen Existenz, die nicht erst aus diesem oder jenem Grund entsteht, sondern immer schon da ist, latent oder eben manifest, wenn sie sich Ausdruck verschafft aus diesem oder jenem Grund. Das lässt sich nicht ohne ein gewisses Pathos formulieren, weshalb Jayne-Ann Igel mit einer geradezu technizistischen Wendung ebendieses Pathos unterbricht. Da ist die Rede von einer „inspektion des trauernden ich, der traurigen seele“. Inspektion also, in Gang gesetzt von einem erblindenden Blick in den Spiegel, über den sich „spuren staubs“ gelegt haben.
Die Staubschicht ist nichts anderes als die Mehrschichtigkeit der Erinnerung, melancholisch vorgetragen, wie mir vorkommt. Und schaut man sich nach anderen Schichten innerhalb der zehn Texte um, wird man sie bald finden. Auf die Staubschicht folgt die Schneeschicht. Stets liegt etwas über etwas anderem: über der Schneeschicht der Mond, und unter dem „schirm von kiefern“ das lyrische Ich.
Mit anderen Worten: Wir haben es hier mit den Schichten einer oder der Geschichte zu tun – und eines Geschichtsbewusstseins, das sich vermittelt in der Gestalt von Landschaftsdichtung, der Verdichtung der Reflexion einer Landschaft, die sich freidenkt, wie es einmal heißt, und die „ihren unmut ob der überformungen“ ausdrückt.
Es ist wohl ein Sichfreidenken als ein Sichverlaufen, als eine Suche nach etwas, das noch seiner Benennung harrt: eine Inkaufnahme der „verluste an gegenwart“, ein Regen, der „sich langsam ins ferne aus[buchstabiert], die vokale zuerst, das geräusch der konsonanten, deren schwingungen noch im körper“.
Ich freue mich sehr, dass Jayne-Ann Igel, die kürzlich ihren 70. Geburtstag gefeiert hat, endlich auf lyrikline.org für alle Welt zu hören ist.
Siehe auch Kulturtipp
Frankfurter Premieren
Erstellungsdatum: 03.12.2024