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Ein Meilenstein in der Designszene: Jörg Stürzebecher

Schreiben, Lehren, Sammeln

Wolfgang Rüger


Jörg Stürzebecher, 22. September 2019, Ausstellungseröffnung Eugen Gomringer in Rüsselsheim. Foto: Simon Malz

Sicher gab es sie schon immer, diese Nonkonformisten, aber sie waren eben immer schon rar. Jörg Stürzebecher, Germanist, Designer, Wissenschaftler und Publizist, hochgelehrt im unüblichen Sinn, streitbarer Selbstdenker und begnadeter Lehrer, kürzlich gestorben, war einer dieser unabhängigen Geister. An ihn, der sein Gedankennetz weit über seine Fachgebiete hinauswarf, erinnert Wolfgang Rüger.


Nach und nach verliert Frankfurt seine stillen Solitäre. Am 16. August 2020 ist Jörg Stürzebecher gestorben, am 25.10.2025 wurde in der Temporären Galerie der Edition & Galerie Hoffmann, Friedberg, am Goetheplatz 1 in Frankfurt das Buch „Designreportagen“ der Öffentlichkeit präsentiert. Unter der Federführung von Ursula Wenzel haben Freunde und Weggefährten von Stürzebecher seine besten Texte in diesem, im wahrsten Sinn des Wortes, gewichtigen Band zusammengetragen. Der Schauspieler Wolfram Koch rezitierte wenige beispielhafte Texte, die eindrücklich untermauerten, welch singuläre Stimme nicht nur der Frankfurter Kunst- und Designszene seit Stürzebechers Tod fehlt.

Knapp fünf Jahre sind wir ein Stück des Wegs gemeinsam gegangen. Seit Mitte der achtziger Jahre verantwortete ich das Feuilleton der Stadtzeitschrift „Auftritt“. Mein Anspruch war, ein Feuilleton zu machen, wie es kein zweites gab. Alles Abwegige und Randständige war also hochwillkommen. Stürzebecher war einer der vielen jungen Schreiber, die am Anfang standen, nichts vorzuweisen hatten außer ihrem Enthusiasmus, und auf der Suche waren nach einer Plattform, auf der sie sich beweisen konnten. Er war voller Ideen abseits des Mainstreams und vertrat seine Meinung rücksichtslos. Der Umgang mit ihm war manchmal nicht ganz einfach, aber mit seiner emphatischen Art war er der ideale Mann für mein Feuilleton. Wenn man etwas bewegen will, muss man sich in der Regel als erster und einziger weit aus dem Fenster lehnen. Das haben wir oft und am liebsten getan. Jörg Stürzebecher war dafür geboren.


Jörg Stürzebecher, Buchmesse 1990. Foto: Ursula Wenzel


Konsequent und kompromisslos verfolgte der 1961 Geborene seine Ziele. Wenn er etwas entdeckte oder vor dem Vergessen bewahren wollte, Künstler oder Themen, dann besorgte er sich alle Infos, die es darüber gab. Im Laufe der Jahre wurde er, der immer analog und führerscheinlos lebte, zu einem wandelnden Lexikon. Sein enzyklopädisches Wissen, das er permanent vergrößerte, war damals schon furchteinflößend, und wenn es geboten schien, setzte er es gnadenlos ein. Er war aber auch bereit, jeden Preis zu zahlen, um sein Wissen zu bereichern. Ende der achtziger Jahre wechselte er z. B. an die Uni Bochum, nur um den Spuren des konstruktiven Gestalters Max Buchartz nachgehen zu können. Zurück in Frankfurt resultierten daraus dann die Ausstellung und das Buch „Max ist endlich auf dem richtigen Weg“.

Seine Interessen und Vorlieben waren breit gestreut, aber weit entfernt vom Massengeschmack, den er gleichwohl wahrnahm. Ein paar Namen mögen das Spektrum vielleicht verdeutlichen: Ilse Bing, Sarah Schumann, Neville Brody, Gunter Rambow, Ellsworth Kelly, Jan Kubicek, Wladimir Tatlin, Dieter Rams, Jan Tschichold, Friedrich Kittler, Dieter Hacker, Stefan Wewerka, Hans Hillmann, Dieter Roth, Ludwig Harig, Angelika Petruschat, Robert Frank, Ror Wolf. Und dann gab es noch drei, die für ihn Superlativ waren: „Stankowski ist der beste Gebrauchsgrafiker, Bill der beste Plastiker und Lohse der beste Maler.“

Schon früh muss im klar gewesen sein, dass er kein Empfänger ist, sondern ein Geber. Sein Platz war nicht auf der Schulbank, sondern hinter dem Lehrerpult. Die Uni besuchte er nur sporadisch, ging nur zu ausgewählten Seminaren, immatrikuliert blieb er nur, um krankenversichert zu sein. In Personalunion war er fortan Vortragsredner, Ausstellungsmacher, Analyst, Kritiker, Wissenschaftler, Theoretiker, Ideengeber, Anreger, Berater und schließlich tatsächlich 25 Jahre lang Dozent an diversen Universitäten und Fachhochschulen. Er schrieb regelmäßig für „Form“ und „Design Report“, arbeitete im „Rat für Formgebung“ und im „Deutschen Werkbund“ mit, war eng verbunden mit der Görbelheimer Mühle und publizierte wegweisende Bücher, die heute alle gesuchte Sammlerstücke sind, z.B. „das quadratische feuer – 22 jahre dokumentation konkreter, konstruktiver, systematischer kunst“ oder seine Monografien zu Max Burchartz und Richard Paul Lohse.

Seine 9teilige „Designgeschichte“ ist ein Standardwerk. Jede kleine Charakterisierung darin ein Schmankerl. „Der Kunststoff-Aktenkoffer … war mehr als ein preiswerter Ersatz herkömmlicher Lederwaren. Farbig und auch durchsichtig lieferbar, war er Symbol einer neu aufgefassten Wohn- und Arbeitsumgebung: kein Gegenstand mit dem Geruch jahrzehntelangen Stullentransports, sondern ein einfach produzierter, bei Modewechsel oder Defekten preiswert zu ersetzender Artikel, der Ordnung auf Verstauen reduzierte und mit seinen Druckknöpfen die Schließgewohnheiten an Taschen kommentierte.“

Das Fragment von Heraklit, mit dem seine Freunde ihre Traueranzeige zierten, bringt seine Meisterschaft auf den Punkt: „Unsichtbare Verbindungen sind stärker als sichtbare.“ Wie kaum ein anderer verstand es Stürzebecher, vom einen zum anderen zu kommen. In einer Rede zur Eröffnung einer Plakatausstellung des Deutschen Werkbundes anlässlich des Umweltgipfels in Rio heißt es: „die nachrichten über den weltumweltgipfel verheißen nun eben, allen erfolgskommuniques zum trotz, nichts gutes. da sollen schadstoffausstöße auf die werte begrenzt werden, die dieser umweltkonferenz ihre dringlichkeit gaben, und die menschen der weniger entwickelten länder sollen arbeits- und kinderlos bleiben, damit die deutsche eiche nicht der pinie weichen muss. nichts neues also, in den industrienationen soll alles so bequem bleiben wie bisher, und als lösung der klima- und daraus resultierenden hungerkatastrophen bietet sich allemal die aufhebung des asylrechts an, und anderes werden wir, folgt man plakaten in dieser kapitale des nord-süd-geldverkehrs, ‚schon noch ausbügeln‘“. Die kurze Rede kommt dann noch auf den argentinischen Maler und Gestalter Tomas Maldonado zu sprechen und endet mit einem Gedicht von Max Bense.

Stürzebecher war „ein wichtiger, anregender und sprachmächtiger Diskussionspartner“, wie der Deutsche Werkbund Hessen ihm in seinem Nachruf attestierte, sein Maßstab jedoch war für die meisten zu hoch. Seinen Studenten verlangte er viel ab, mit den Administratoren seiner Lehranstalten legte er sich immer wieder an, aber beide profitierten ungemein von seiner unkonventionellen Art, wenn sie sich auf ihn einließen. Selbst wenn er manchmal im Zwist einer Uni den Rücken kehrte, holte ihn diese Jahre später wieder zurück. Zu groß sein pädagogisches Geschick. Ein guter Lehrer wandelt nicht auf ausgetrampelten Pfaden, er reißt Horizonte auf. „Unvergessen ist unter anderem sein selbstverständlich eigenhändig zusammengesammeltes Einwegbecher-Konvolut, anhand dessen er den Studierenden sämtliche Aspekte des Designs zu vermitteln vermochte: Ästhetik, Ergonomie, Ethik, Farbe, Fertigungstechnologie, Form, Marke, Material, Typografie …“ erzählt Stephan Ott in seinem Nachruf. Eine angestrebte Professur blieb ihm aber verwehrt, weil er keinen Uniabschluss vorweisen konnte.

Nach unserer kurzen journalistischen Zusammenarbeit begegneten wir uns nur noch sporadisch. In den Zweitausenderjahren tauchte er manchmal unvermittelt in meinem Antiquariat auf, um mir von einem seiner Funde zu erzählen, von denen er wusste, dass sie mich interessieren könnten. Zum Beispiel alles, was mit Rolf Dieter Brinkmann zusammenhing. Einmal kam er, um mir einen Abzug von Candida Höfers Brinkmann-Foto mit legendärer roter Documenta-Wurst zu schenken, den er vermutlich aus irgendeinem Abfallhaufen gezogen hatte.

Unermüdlich durchkämmte er Frankfurt auf meist klapprigsten Fahrrädern, deren wichtigstes Utensil ein großer Korb auf dem Gepäckträger war. Seine Streifzüge galten dem Außergewöhnlichen. Er war Entdecker und Bewahrer. Wenn Gefundenes noch halb brauch- oder reparierbar war, schleppte er es nach Hause. Er war der klassische Messie, nur eben einer mit Sachverstand. Über die Jahre trug er eine immense Sammlung zusammen, verteilt auf Wohnung, Lager, Ausweichlager und Elternhaus. „Ab den 2010er-Jahren ließ Jörg nur noch Menschen in seine Wohnung, wenn es gar nicht anders ging;“ erzählt Holger Jost, „die jährliche Ankündigung des Besuchs des Heizungsablesers löste bei ihm Panik und dann tagelange Freilegungsarbeiten aus.“

Ursula Wenzel, seine jahrzehntelange Komplizin und fotografische Dokumentaristin, hat die „Designreportagen“ zu einem Gesamtkunstwerk gemacht. Im Buch ist nichts zufällig. Außen folgt es einer seriellen Titelgestaltung, innen orientieren sich die Farbseiten an Jean Prouvés Farbpalette, und gesetzt ist das Buch in Stürzebechers Lieblingsschrift MT Grotesque. Die chronologische Ordnung der reich bebilderten Texte lässt den Leser am Reifeprozess des Autors teilnehmen. Die meisten Artikel in diesem Buch sind großartige, wissenspralle, kurzweilige Lesestücke von dauerhafter Gültigkeit.

Heute gehören wir zu den alten weißen Männern. Aber wenn man Stürzebechers Buch als Maßstab nimmt, dann haben wir doch vieles richtig gut gemacht.

Ursula Wenzel (Hg.)
Jörg Stürzebecher
Designreportagen
Mit 500 Abb., 480 S.
ISBN 978-3-940048-48-6
Brinkmann & Bose, Berlin 2025

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Erstellungsdatum: 15.11.2025