MenuMENU

zurück

Nina Simones und Frank Sinatras „I Did It My Way” an der Oper Stuttgart

Sie tun’s auf ihre Art

Thomas Rothschild


„I Did It My Way“. Larissa Sirah Herden, Lars Eidinger. Foto: Matthias Baus

Warum setzen wir uns immer wieder mit dem Theater und der Oper auseinander? Weil die Bühnenkunst beansprucht, das künstlerisch zu verwandeln, was uns wesentlich angeht. Das kann komisch oder tragisch daherkommen – die intelligente Arbeit ist in künstlerischer Hinsicht immer erfolgreich, setzt kollektive Reflexion in Gang und kollidiert stets mit dem Geld, weil Gewinnstreben und Einsparungen destruktiv wirken. Thomas Rothschild hat sich in der Stuttgarter Oper „I Did It My Way” angesehen – ein Stück, das nicht von Nina Simone und Frank Sinatra verfasst wurde – und geht ins Grundsätzliche.

 

Die Saison hat begonnen. An der Stuttgarter Oper wurde sie mit einem Import von der Ruhrtriennale eröffnet, wo die Koproduktion „I Did It My Way“ über Nina Simone und Frank Sinatra bereits gezeigt worden war. Dieser aus dem Rahmen fallende Abend ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Er bündelt in aller Deutlichkeit eine Reihe von Tendenzen, die das gegenwärtige Theater kennzeichnen.

  1. Festivals werden zunehmend zu Stätten von Vorpremieren. In den USA finden sie oft in der Provinz statt, wo sie den letzten Schliff erhalten. In Europa schmücken sich die Wallfahrtsorte des Theaters mit ihnen. Der Ausnahmecharakter der Veranstaltungen westlich von Salzburg ist nur noch Legende, Vorwand für finanzielle Beteiligung von subventionierten Häusern und Anlass für Selbstdarstellung eines großenteils betuchten Publikums. Ein Übermaß an dramaturgischer Fantasie kann man den Festspielmanagern nicht attestieren. Eher muss man mutmaßen, dass sie, wie viele ahnungslose Kuratoren im gegenwärtigen Kulturbetrieb, ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Hörensagen und nicht von Kenntnis und (Wieder)Entdeckungsfreude treffen. Sie programmieren wie der Filialleiter eines Supermarkts, der eilig ins Regal stellt, was im Feinkostladen nebenan erfolgreich verkauft wurde.
  2. Ein krasserer Übergang von einer Intendanz zur anderen lässt sich kaum denken als der zwischen Jossi Wieler mit seinem Dramaturgen und Partner Sergio Morabito und Viktor Schoner im Jahr 2018. War Wieler als Intendant wie als Regisseur die personifizierte Nachdenklichkeit, alles eher als ein Entertainer, so repräsentiert Schoner das Prinzip des Spaßes. Wielers Spielplan und die Inszenierungen folgten strengen Überzeugungen, einem durchdachten Programm, was Oper in der Gegenwart zu bedeuten habe. Schoner hingegen setzt auf eine Vielfalt der Handschriften, auf den Gemischtwarenhandel bis hin zur Beliebigkeit. Das Bekenntnis des Regisseurs Ivo Van Hove, er wolle keine Grenze ziehen zwischen Pop und Hochkultur, zwischen Musical und Musiktheater, könnte auch Schoners Credo sein. Da haben sich zwei gefunden.

Konnte man diesem Wechsel in Schoners erster Spielzeit noch etwas abgewinnen, auf Anregungen und neue Erfahrungen hoffen, verstärkte sich alsbald der Verdacht, dass er mit Oper im traditionellen Verständnis nicht viel im Sinn hat. Dabei nahm er auf äußere Bedingungen keine Rücksicht. Anders als Berlin oder Wien hat Stuttgart nur ein einziges Opernhaus. Wo, wenn nicht hier, soll Oper stattfinden? Für opernferne Kunstformen, allen voran die Jugendkultur des Hip-Hop, die Schoner offenbar goutiert, gibt es am Neckar jede Menge Veranstaltungsorte, namentlich Das Wizemann, das gerade seinen zehnten Geburtstag feiert, und das Theaterhaus schon viel länger. Der Bedarf ist gedeckt. Und im Haus am Eckensee, das immerhin auch von jenen Opernfans am Leben erhalten wird, die mit ihren Steuern schon die Autobahnen, die Stadien und den Polizeischutz vor Fußballrowdys ungefragt mitfinanzieren? Statt Nono, Penderecki oder Saariaho – Hip-Hop oder eben Frank Sinatra, begleitet von der zum Anzeigenblatt degenerierten Lokalzeitung, die ihre Seiten mit Setlists mittelmäßiger Konzerte und stilistischem Müll füllt (Kostprobe: „In den anderthalb Stunden, die das Konzert am Donnerstag dauert, wird Gruber – zumindest musikalisch – immer wieder ein anderer werden.“) Die geliftete Presse und Schoners Konzept(losigkeit) treffen sich in einem rasant zunehmenden Infantilismus. Wo man einst nicht ganz ohne Berechtigung elitäres Bewusstsein ausfindig machte, ist man mittlerweile bei „Bravo“ und Haribo (macht Kinder froh) angelangt. Offenbar sind die verbliebenen Leserinnen und Leser damit zufrieden, regelmäßige Listen der „besten“ Biergärten, der „besten“ Eissalons oder der „besten“ Pizzabäcker zu studieren. Ein Redakteur der mit der Stuttgarter Zeitung fusionierten Stuttgarter Nachrichten erschöpft sich mit gelegentlichen Reminiszenzen an die Rockmusik der siebziger Jahre, ein anderer ist offensichtlich zwischen aktuellen Popkonzerten damit beschäftigt, vor dem Fernseher zu sitzen, um ein Mal im Monat zu dekretieren, welche die zehn „besten“ Netflix-Serien seien, die man angeblich nicht verpassen darf. Wie soll er noch zu anständiger Arbeit kommen, wenn er monatlich zehn Serien und viele weitere, die überhaupt erst diese zehn als die im Vergleich besten ausweisen, zur Gänze sehen muss? Die Homestory, der Daten- und der Gesellschaftsjournalismus erfüllen, nach dem Vorbild des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, den Zweck: eine einstmals angesehene überregionale Zeitung überflüssig zu machen.

Und wie reagiert man im Opernhaus? Wer sich darüber wundert, dass Viktor Schoner himself von sich und seiner Programmpolitik begeistert ist, kennt die Regeln des Kulturbetriebs nicht. Selbstkritik ist nicht Teil von ihnen. Wer in ökonomischen statt in ästhetischen Kategorien denkt, hat ja auch ein starkes Argument. Und dass sich die Aufkündigung der Grenze zwischen Pop und Hochkultur rechnet – Zufall oder doch Kalkül? Die hohen Auslastungszahlen geben Schoner recht. Und die Medien überschlagen, unterstützt von populistischen Politikern, was die Sanierung eines Opernhauses (an Geld), nicht aber, was der Verlust an kulturellem Gedächtnis und an schöpferischer Gegenwart (an Lebensqualität) kostet. Wenns billig genug ist, reicht ihnen eine Nation von Zombies, die Abend für Abend Netflix glotzen.

Zu befürchten ist, dass von Viktor Schoner eine irreversible Entwicklung eingeleitet wurde, die in anderen Sparten längst Flurschaden angerichtet hat. Die Stuttgarter Jazzclubs sind, ebenso wie der anspruchsvolle Treffpunkt Jazz des wegfusionierten Süddeutschen Rundfunks, verschwunden zugunsten der großzügig geförderten Jazz Open, die mit Herbert Grönemeyer, Simply Red, Lionel Richie, Zucchero oder Kraftwerk Etikettenschwindel betreiben. Das Stuttgarter Kommunale Kino ist schon vor Jahren zugunsten der Blockbuster der Major Companies verschwunden. Ein Leben ohne Oper ist möglich, aber zumindest ebenso sinnlos wie ein Leben ohne Mops.

(Damit wir uns nicht missverstehen: Pop und die angrenzenden Bereiche haben durchaus ihre Qualitäten. Mal mehr und mal weniger. Der Niveauunterschied zwischen, sagen wir, Gentle Giant oder Sting und Modern Talking oder Roland Kaiser ist nicht geringer als der zwischen „Wozzeck“ und der vier Monate später uraufgeführten „Turandot“. Vor fünfzig Jahren musste man noch für die Anerkennung von „Rock und Pop und Rock“ (Hanns Dieter Hüsch) kämpfen und die Redakteure davon zu überzeugen versuchen, dass Rockfestivals ebenso eine Rezension verdienen wie ein Sinfoniekonzert. Damals, nach 1968, war das auch ein Kampf gegen den elitären Alleinvertretungsanspruch der Bourgeoisie. Es waren die Jahre, als „Kindertheater“ in Deutschland ein Fremdwort und das Grips-Theater eine Sensation war. Heute kann man sich schon lange vor Weihnachten vor Kinderstücken, für die die reduzierte oder ausbleibende Hochkultur Platz geschaffen hat, kaum noch retten, und sie sind meist weit entfernt von den aufklärerischen Idealen der sogenannten Studentenrevolte. Aber der Kampf ist längst entschieden, seit die Interessenvertreter in den Medien begriffen haben, dass sich mit Pop – anders als etwa mit Jazz, der diesen Namen verdient – viel Geld verdienen lässt. Heute braucht die Hochkultur Advokaten, die nicht ihren Abbau in Kauf nehmen oder gar befördern, sondern dafür eintreten, dass alle (Hilmar Hoffmanns „Kultur für alle“) nicht nur Zugang zu ihr haben, sondern auch die Voraussetzungen bekommen, sie zu genießen. So gesehen bedeutet „keine Grenze zwischen Pop und Hochkultur“ nicht weniger als „keine Grenze zwischen Disco und Bildungseinrichtungen“. Ein Plädoyer also für die Zwangsbeglückung? Ja. Wie einst für die allgemeine Schulpflicht. Und wer als Operndirektor für Oper, also für Hochkultur votiert, kann ja in seiner Freizeit Hip-Hop hören oder meinetwegen tanzen: er handelt wie der Museumsdirektor, der sich für jene verantwortlich fühlt, die Exponate besichtigen wollen, ohne deshalb jene zu verdammen, die lieber auf der Rampe des Museums Skateboard fahren. Dafür erhält er die Steuergelder.)

  1. Lassen wir uns darauf ein, dass das Musical in der Oper seinen Platz finden kann. Als Marcel Prawy 1956 an der Volksoper die operettenverliebten Wiener über „Kiss Me, Kate“ mit dem Musical bekannt machte, war das durchaus verdienstvoll. Aber die Stuttgarter begegnen nie und nirgends Gilbert & Sullivan, Cole Porter, George Gershwin, Irving Berlin, Rodgers & Hammerstein, Jerome Kern, Frank Loesser, Frederick Loewe und Alan Jay Lerner, Kurt Weill (jenseits seiner Zusammenarbeit mit Brecht) oder Leonard Bernsteins Expeditionen ins Genre. Muss es dann, außer dem patentierten Hochglanzkitsch am Stadtrand à la „Die Eiskönigin“ und „Tarzan“, ausgerechnet das Mittelmaß von „I Did It My Way“ sein? Das ist, als bekäme man in den Buchhandlungen am Ort ausschließlich die aktuellen Bestseller, nicht aber die Werke von Dickens, Tolstoi oder Virginia Woolf.

„I Did It My Way“. Marco Labellarte, Lars Eidinger, Samuel Planas. Foto: Matthias Baus

 

  1. 1978 schrieb Pam Gems das Theaterstück „Piaf“, das unzähligen Schauspielerinnen die Möglichkeit bot, zu beweisen, dass sie (fast) so gut singen können wie die legendäre Diseuse. Der Erfolg verdankte sich dem Doppelcharakter der Show: einem voyeuristischen Schauspiel und einem professionellen Liederabend. Lars Eidinger ist kein Frank Sinatra. Manche Kritiker sprechen es unverblümt aus: Er kann nicht singen. Damit aber geht der Reiz flöten, den das Stück über Édith Piaf ausgeströmt hat. Von der Wiederbelebung bleibt nur eine Behauptung. Eine Sinatra-Kopie, die nicht singen kann, ist wie ein Mona-Lisa-Imitat ohne Lächeln.

Mehr noch: Wüsste man es nicht auf der Basis von vorausgegangenen Bühnenereignissen anders, müsste man sich allein auf „ I Did It My Way“ verlassen, käme man kaum auf die Idee, dass Eidinger ein guter Schauspieler sei. Von Frank Sinatra, mit dem man wohl eine Figur identifizieren darf, die ausschließlich mit dessen Liedern spricht, auch wenn er sie nicht ausdrücklich verkörpert, hat er absolut nichts, jedenfalls nicht die Lockerheit, die den Crooner und das Rat Pack – neben Sinatra Dean Martin und Sammy Davis Jr. – kennzeichnet. Musikalisch wie darstellerisch kommt er nicht an, sagen wir, Michael Heltau, Harald Juhnke oder Werner Schneyder (vor 60 Jahren in der Bar des Böglerhofs mit einem angeheiterten Sławomir Mrożek an der Theke) heran.

  1. Montiert hat der Regisseur und derzeitige Intendant der Ruhrtriennale Ivo Van Hove die Folge von Songs mittels einer angedeuteten Story, die den Abend dem Musical annähern soll. Sagen wir es unverblümt: Sie ist „anständig“, aber von deprimierender Schlichtheit. Das passt in unsere Zeit. Mit diesen Klischees wird man nirgends anecken. Der Ruf nach Absetzung oder Verbot ist nicht zu befürchten. Dieses „Libretto“ stößt mitten in den Konsens diesseits der AfD.

Da die einzelnen Songs von Frank Sinatra und Nina Simone inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, kann der nachgelieferte Zusammenhang für den Liederabend (denn das ist die Sache weit eher als ein Musical) nur eine Notlösung sein. Sie gleicht nicht den dramaturgisch durchdachten Bühnenmusicals und nicht einmal Musicalfilmen oder Filmmusicals, bei denen die Handlung lediglich den Anlass für die einzelnen Gesangsnummern liefert, wie „Top Hat“, „Easter Parade“, „On the Town“. „An American in Paris“, „Singin’ In The Rain“, „A Star Is Born“, „My Fair Lady“, „West Side Story“ oder gar Jacques Demys geniale „Les Parapluies de Chérbourg“ sind von einem anderen Kontinent. Noch der Film „High Society“ von 1956, in dem der echte Frank Sinatra neben Bing Crosby, Grace Kelly und Louis Armstrong mitspielte, war, verglichen mit Van Hoves Entwurf, ein Ausbund an literarischer Fantasie.

Bleibt als Pluspunkt das hervorragende Staatsorchester Stuttgart mit nicht immer optimalen Arrangements (so dröge hat man „Black Magic“ selten gehört). Die armseligen Choreografien hingegen beschämen jene, die vergessen haben, dass das Event im Haus des weltberühmten Stuttgarter Balletts stattfindet.

An einer Stelle zitiert Eidingers überlegene Partnerin Larissa Sirah Herden Billy Holidays „Strange Fruit“. Es ist, neben dem Filmdokument einer Rede von Martin Luther King, die mit einem Blues unterlegt ist, als sänge der legendäre Bürgerrechtler, der Höhepunkt des Abends. Mit Frank Sinatra haben die beiden Szenen nichts zu tun.       

 

Staatstoper Stuttgart

 

Erstellungsdatum: 28.09.2025