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Aus dem Notizbuch

Tagesablauf

Eldad Stobezki


Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Glasgemälde 1550. wikimedia commons

Weil man nicht weiß, was am Baum der Erkenntnis wuchs, lässt es sich trefflich spekulieren. Es wird doch kein Granatapfel gewesen sein? Oder gar eine Zitrone? Mangel an Erkenntnis und Bewusstsein herrscht nicht in Eldad Stobezkis Notizen, in denen auch Kindesentführer, St. Trinitatis in der Nonnenmühlgasse, Milch und Honig, Gaza und Minen, Polohemden und Klettverschlüsse, 13 Arme und 1 Schnappdaumen – und eben Zitronen Platz finden.

 

Abends: 19 Uhr Abendessen, 20 Uhr Tagesschau, 20:15 Uhr ein Krimi, irgendeiner. Auf einer Bank am Spielplatz eine Mutter. Ihr Kind spielt mit anderen Kindern, während sie im Display ihres Handys versinkt. Ich weiß schon jetzt, wenn sie hochschaut, wird das Kind verschwunden sein. Und so kommt es: Als sie endlich aufblickt, ist das Kind weg. Hysterisch rennt sie umher, fragt andere Mütter, ob sie etwas gesehen haben. Die Polizei wird gerufen. Ich schlafe ein. 21:37 Uhr wache ich auf. Das Kind ist gefunden worden – lebendig, gesund. Die Entführerin, deren Motive mich nicht interessieren, wird abgeführt. 21:45 Uhr: Caren Miosga mit Gästen aus Politik und Wirtschaft. Auch hier ahne ich, was gesagt werden wird. Ich schlafe erneut ein.

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Ende März 2025: Zur Leipziger Buchmesse war ich eingeladen, um aus meinem Buch zu lesen. Anlass für die Lesung im Ariowitsch-Haus, dem Zentrum für jüdische Kultur in Leipzig, war das 60. Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel.

Nach der Lesung gönnte ich mir einen Tag Urlaub in der Geburtsstadt meiner Mutter. Mein erstes Ziel war St. Trinitatis, eine katholische Kirche, eingeweiht 2016. Ein schlichter Würfel aus rotem Stein, erbaut am Martin-Luther-Ring, modern und kühn zwischen den Gründerzeitbauten – und von den meisten Leipzigern als hässlich empfunden. Das Innere hell und klar, fast schmucklos. Das ist alles andere als das, was man von einer katholischen Kirche erwartet. Aber ihre Adresse lautet nicht Martin-Luther-Ring, sondern Nonnenmühlgasse 2, eine kleine Seitengasse. Im Boden eingelassen vierzehn kleine, runde Platten. Die Stationen des Kreuzwegs Jesu. Jede nummeriert, jede mit einer kurzen Beschreibung versehen. Sie erinnerten mich an Stolpersteine.

Der Kreuzweg war ein Todesmarsch. In zwei Tagen ist Karfreitag.

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2.Buch Mose, Kapitel 3, Vers 8: „Und ich gehe nun hinab, um sie aus der Hand der Ägypter zu befreien und sie aus jenem Land hinaufzubringen in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließt, an den Ort der Kanaanịter und der Hethịter und der Amorịter und der Perisịter und der Hiwịter und der Jebusịter.“

Solange die Geiseln in Gaza nicht befreit sind, sind wir nicht aus Ägypten ausgezogen. In dem Land, das schon damals besiedelt war, fließen heute Blut und Tränen.

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Eine Freundin in Israel liest meine Kiesel und ärgert sich, wenn ich kritisch über den Gaza-Krieg schreibe. Sie nennt meine Texte „Minen“ und meint, ich solle Israels Ruf nicht noch weiter beschädigen – als ließe sich die Wahrheit verbergen.

„Die Minen liegen nur in deinem Kopf, schrieb ich ihr. Und übrigens: Israel ist nicht Mitglied des internationalen Abkommens gegen Antipersonenminen.“ Auch die USA, Russland, China, Ägypten, Indien, Iran, Nordkorea, Pakistan, Südkorea, Syrien und Saudi-Arabien haben es nicht unterzeichnet.

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Vor einigen Jahren musste mein linker Schnappdaumen operiert werden. Die Operation war unvermeidlich. Seitdem kann ich den Daumen nur noch eingeschränkt benutzen, der Nerv ist nicht richtig zusammengewachsen. Am schwersten fällt es mir, den Knopf am rechten Ärmel zu schließen. Seitdem trage ich Hemden nur noch, wenn es unbedingt sein muss. Auch Schnürsenkel sind eine Herausforderung – Lösung des Problems: Polohemden und Klettverschlüsse.

Neulich sah ich eine Sendung über Kigumi, die traditionelle japanische Technik, Holzstücke ohne Nägel, Schrauben oder Leim zu verbinden. Präzise Schnitte, perfekte Passungen, stabile Strukturen. Ich dachte an meinen Knopf am rechten Ärmel.

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  1. In der Kunsthalle München sah ich einen Jugendstil-Leuchter von Bruno Paul: Dreizehn Arme, angeordnet wie ein Pfauenrad. Warum dreizehn und nicht eine andere Zahl? Das blieb ein Rätsel. Mit dem letzten Abendmahl hatte es wohl nichts zu tun.

Auf einem Basar in Side wurde einer Freundin ein handgeknüpfter Seidenteppich mit dem Motiv des letzten Abendmahls angeboten – für eine horrende Summe. Eine angebliche Geldanlage.

Ich dachte daran, ein Kochbuch über die Speisen des letzten Abendmahls zu schreiben. Aber der Markt ist längst gesättigt. Und wer will wirklich wissen, was sie damals aßen?

Wer weiß, welche Frucht Adam von Eva gereicht wurde?

Im Judentum wird ein Junge mit dreizehn Jahren zum vollwertigen Mann, verantwortlich für Gebote und Verbote. Mit dreizehn endet die Kindheit. Wenn sie nicht längst schon durch Krieg und Vertreibung beendet wurde.

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Eine Freundin aus Israel, die heute in Griechenland lebt, schrieb mir:

„Eigentlich wollte ich heute Morgen keine weiteren Details mehr hören – nichts mehr von dem, was immer schmerzhafter wird, nichts vom Tag des zerbrochenen Herzens, der näher rückt (gemeint ist der Holocaust-Gedenktag). Also ging ich hinaus auf die grau-verregnete Straße, um Luft zu holen. Als ich zurückkam, standen am Eingang unseres Hauses Tüten voller Zitronen – herrliche, leuchtende Zitronen.
Darüber ein handgeschriebener Zettel: ‚χρόνια πολλά με υγεία‘ – Frohes Fest und Gesundheit.
‚Wir waren im Dorf und haben für alle gepflückt. Bedient euch.‘ Ich nahm einige und füllte die Obstschale damit. Wie schön ist diese schlichte Großzügigkeit. Aber warum weine ich?“

Eldad Stobezki
Rutschfeste Badematten und koschere Mangos

Gebunden, 150 Seiten
ISBN 9783949671159
Edition-W, Frankfurt, Frankfurt 2024

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Erstellungsdatum: 12.06.2025