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Über den Umgang mit Geschichte auf der Bühne

Theater und Gegenwart

Thomas Rothschild


Hoftheater Meiningen. Foto: Meininger Theater. Wikimedia Commons

Öffnet sich der Vorhang im Theater, wird der Blick in eine andere Wirklichkeit frei. Der wird jedoch inzwischen immer häufiger durch überspitzte Gegenwartsbezüge vereitelt. Wie Peter Zadek, Claus Peymann oder Hans Neuenfels widersetzt sich auch die Theater- und Opernregisseurin Andrea Breth diesem Trend. Dass sie ihre Wiener Emilia-Galotti-Inszenierung nicht ins Heutige zerrte, sondern die Modernität des Textes zeigte, schätzt Thomas Rothschild sehr. Die Entsorgung von Geschichte auf der Bühne bedeutet für ihn die Entsorgung von Utopie.

 

Der Versuch, Widerspruch einzulegen gegen die allenthalben verlautete Forderung, Theater müsse „mit uns zu tun“, müsse einen „Gegenwartsbezug“ haben, ist zurzeit fast so riskant wie die Absicht, die Pädophilie zu verteidigen. Der Konsens scheint allmächtig und wer gegen ihn verstößt abwegig oder zumindest geisteskrank. Selbst eine standhafte Regisseurin wie Andrea Breth, die sich, ganz gegen den Mainstream, für das „kulturelle Gedächtnis“ starkmacht, fühlt sich gedrängt, darauf zu dringen, dass Klassiker es ermöglichten, „sie aus der heutigen Sicht zu lesen“, als müsse man sich für eine andere als die heutige Sicht, was immer das sein mag, rechtfertigen.

Wer an einem See sitzt, die Berge betrachtet und sich über die Schönheit einer Wolkenformation freut, fühlt sich frei von der Suche nach deren Gegenwartsbezug. Wer ein Fußballspiel besucht, bedarf keiner Bezugnahme auf sich selbst oder auf den Weltzustand. Wer im Museum ein Bild von Kandinsky oder Jackson Pollock bewundert, wird sich kaum fragen, was das mit ihm zu tun hat. Ihr Interesse ist ein anderes als das des Landwirts, der in den Wolken zu erkennen versucht, ob Regen kommen wird und er das Heu einfahren muss, als das des Sportmanagers, der überlegt, ob er einen Spieler abwerben soll, als das des Kunsthändlers, der berechnet, was er mit einem Bild verdienen kann. Warum sollte es nicht möglich sein, auch im Theater Vergnügen zu haben an dem Durchschauen von „veralteten“, längst nicht mehr bedeutsamen Zusammenhängen? Warum sollte es nicht möglich sein, sich für die Mechanik komischer Techniken oder die Verstellungskunst eines Schauspielers zu begeistern? Warum sollte es nicht möglich sein, den zwecklosen Mehrwert ästhetischer, sprachlicher, visueller Konstruktionen zu genießen?

Kants „interesseloses Wohlgefallen“ hat nichts von seiner Gültigkeit verloren, wenn man es nicht missversteht als ein Wohlgefallen, das kein Interesse am Gegenstand einschließen darf. Es darf bloß keinem praktischen Zweck dienen, muss frei sein vom Nützlichkeitsdenken. (Im Englischen bedeutet „interest“ sowohl „Interesse“ wie auch „Zinsen“!) „L'art pour l'art“, geschmäht vorwiegend von Verächtern, die nicht wissen, was genau damit gemeint war, schließt das politisch engagierte, auf unsere Gegenwart zielende Theater ja ebenso wenig aus wie das angeblich „museale“ Theater, das sich historischer Verfahren bedient. Das Theater hat, wie die anderen Künste, viele Möglichkeiten, die einander ergänzen. Jeder Verzicht auf eine Möglichkeit bedeutet eine Verarmung.

Matthias Hartmann, der einstige Direktor des Burgtheaters, sagte einmal in einem Interview: „Theater ist eine Wirklichkeitsfabrik, weil wir nicht versuchen, irgendeine Wirklichkeit nachzuahmen – wir stellen sie her. Ist es nicht so, dass sich überall Menschen einander etwas vorspielen? Im Restaurant, in der Geschäftswelt, beim Balzen? Im Theater besteht jedoch die Verabredung, dass man sich etwas vorspielt, und deshalb ist es vielleicht realer als die Wirklichkeit. Am Ende hat man das Gefühl, dass die wirkliche Wirklichkeit nur ein Teil der Möglichkeiten von Wirklichkeit ist, wie sie im Theater erforscht und ausprobiert werden.“ Das war zwar schon damals nicht neu, aber es wird immer wieder vergessen. Die Verfechter des geschmähten Sozialistischen Realismus waren näher an den Bedürfnissen der Zuschauer und auch vieler Theaterleute dran, als diese wahrhaben wollen: Nichts erscheint wünschenswerter als eine augenfällige Widerspiegelung der vertrauten Alltagswirklichkeit, modifiziert allenfalls durch eine optimistische Vision („lakirovka“ hieß das im sowjetischen Jargon).

Und weil Theater in diesem Verständnis nichts anderes ist als die Fortsetzung der Welt vor der Rampe, darf es keinen Vorhang mehr geben. Es mochte ja sinnvoll sein, die Konvention des Bühnenvorhangs zu durchbrechen, das – etwas ungeduldig auf den späten Einlass wartende – Publikum beim Betreten des Zuschauerraums mit dem Arrangement auf offener Bühne zu konfrontieren. In dem Maße aber, in dem dieser Effekt zur Mode und fast zur Regel geworden ist, hat man auf ein eminent theatralisches Mittel verzichtet. Denn das Öffnen des Vorhangs im abgedunkelten Raum ist nicht nur ein magischer, ein erregender Moment, es signalisiert auch demonstrativ die Freigabe des Blicks auf jene andere Wirklichkeit, von der Hartmann spricht. Der Vorhang markiert die Grenze zwischen der Wirklichkeit, die wir gemeinhin für die eigentliche halten, und der im Theater produzierten Wirklichkeit. Er verschwindet vorübergehend, um die Wirklichkeit der Bühne über die Rampe schwappen zu lassen, und senkt sich am Ende. Wir bleiben zurück mit der Erinnerung an eine Utopie, die das Theater für sich behält. Jedenfalls vorläufig.

Einem platten Wirklichkeitsverständnis sind auch die Kostüme zum Opfer gefallen. Sie zählen zu den ältesten Mitteln, derer sich das Theater bedient, und wie elementar das Vergnügen an der Verkleidung ist, macht die dauerhafte Existenz von Karneval, Fastnacht oder Fasching deutlich. Theater ohne Kostüme, als Experiment durchaus willkommen, ist, wenn es zur Gewohnheit wird, wie ein Gulasch ohne Paprika. Die Idee dahinter ist offensichtlich bis zur Langeweile: indem man zeitlich einordenbare Kostüme unterschlägt, will man die historischen Spuren eines Dramas verwischen. Es soll tun, als wäre es von heute. Gegenwartsbezug, oder was man dafür hält, ist einmal mehr oberstes Gebot.

In seiner genialen DVD-Edition „Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital“ hat Alexander Kluge nachgewiesen, wie die Beschäftigung mit der Geschichte, die genaue Auseinandersetzung mit (buchstäblich und im übertragenen Sinne) antiken Texten gerade durch Bewusstmachung der Unterschiede die Gegenwart zu erhellen vermögen. Aber selbst wenn man dem Zuschauer diese Mühe nicht zutraut, wenn man unterstellt, er vermöge die Gegenwart nicht aus der Differenz zur kostümierten Vergangenheit zu extrapolieren, gibt es kaum eine plattere und unintelligentere Form der angeblichen Aktualisierung als die plakative Verkündung von gerade im Umlauf befindlichen Schlagwörtern im Text oder von Accessoires im Bühnenbild. Reizwörter und Etiketten anstelle analytischer Durchdringung bezeugen nur ein äußerliches Verständnis von gegenwärtigem Theater. Die antikapitalistische Occupy Wall Street-Bewegung hat mit Puccinis Bohème-Prekariat ebenso wenig zu tun wie ein Laptop oder das Coca-Cola-Signet mit dem gegen die Slawophilen opponierenden Westlertum Peters des Großen. Der scheinbare Gegenwartsbezug kommt nur durch eine Vergewaltigung der historischen Zusammenhänge und durch die Suggestion einer Analogie, die vorn und hinten nicht aufgeht, zustande.


Tragödie und Komödie. Mosaik mit Theatermasken. Palazzo nuovo, Capitolinische Museen. Foto: Carole Raddato. Wikipedia

 

Dass es diesseits des Kostümtheaters, aber jenseits oberflächlicher Gegenwartssignale eine dritte Möglichkeit gibt, ist nicht bloß Theorie. Als Belege seien die „Kleinbürger“ in der Regie von Karin Beier genannt, die nicht umsonst Jahre lang auf dem Spielplan des Burgtheaters standen, die legendären Tschechow-Inszenierungen von Jürgen Gosch, Andrea Breths „Don Carlos“ oder Michael Hanekes „Così fan tutte“. In all diesen Fällen bedarf es keiner aufdringlichen Hinweise, dass es um Menschen und soziale Zustände geht, die in unserer Gesellschaft ihre Entsprechung haben, ohne dass die Herkunft der Stücke aus der Vergangenheit verheimlicht würde.

Die legendären Inszenierungen der Zadek, Stein, Grüber, Peymann, Neuenfels, Karge, Bondy hatten bei allen Unterschieden eines gemein: Sie nahmen ihre Vorlagen ernst. Sie wollten an ihnen etwas sichtbar machen, was bis dahin verborgen geblieben war. Sie brachten zuvor verdeckte Aspekte zum Vorschein, rekonstruierten eine im Lauf der Aufführungstradition verloren gegangene Radikalität, korrigierten historisch bedingte Verfälschungen und kritisierten auch gelegentlich das „falsche Bewusstsein“ ihrer Autoren. Aktualisierung bedeutete für sie, erkennbar zu machen, was sich aus der Geschichte für die Gegenwart lernen lässt, nicht plumpe Aufpfropfung von Jargon, Tagesnachricht und Mode auf überlieferte Dichtung.

In einem der gescheitesten Bücher zur Arbeit am Theater, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, in „Frei für den Moment“ sagt Andrea Breth zur Interviewerin Irene Bazinger über ihre Wiener „Emilia Galotti“: „Mein Ansatz war nicht, das Stück unbedingt ins Heutige zu zerren, sondern die Modernität des Textes zu zeigen.“ Genau das ist es. Besser kann man es nicht formulieren.

Wer sich nicht als beckmesserischer Sprachpfleger blamieren möchte, muss wohl damit leben, dass zeitgeisterfüllte Journalisten floskelhaft Aktualität beschwören. Er muss es hinnehmen, dass die noch sinnvolle meteorologische Aussage von den „gefühlten Temperaturen“ auf dem Umweg über Harald Schmidt bis in die F.A.Z. vorgedrungen ist, wo man „gefühlte einhundert Verfilmungen der Romane von Jane Austen“ registriert, weil Wörter wie „geschätzte“, „rund“ oder „ungefähr“ aus dem Sprachschatz ihrer Redakteure verschwunden sind. Er muss es hinnehmen, dass „angesagt“ nicht nur angesagt, sondern auch steigerbar ist, wie in der „Stuttgarter Zeitung“, wo von einem Altstadtplätzchen behauptet wird, dass es „sich in den vergangenen Jahren zu einem der angesagtesten Viertel der Stadt entwickelt“ habe. Dürfen wir wenigstens im Theater noch daran erinnert werden, dass es in der Sprache und über sie hinaus Geschichte gibt, dass diese die Zukunft im Keim in sich birgt und dass unsere Gegenwart erst im Vergleich mit ihr verständlich wird?                    

Die aktuelle Forderung eines Theaters, das unmittelbar mit dem heutigen Zuschauer zu tun hat, die verspätete triviale Verwandte der Forderung nach „gesellschaftlicher Relevanz“, die um 1968 die Diskussionen dominierte, reagiert auf ein imaginiertes oder tatsächliches Publikum, das sich dem politischen Theater gegenüber feindselig verhält, das „nur“ unterhalten werden möchte, das, mit einem Wort Brechts, lediglich „romantisch glotzt“. Aber in ihrer Ausschließlichkeit ist sie das Spiegelbild dessen, wogegen sie opponiert. Und es wird da viel geheuchelt. So mancher, so manche, die vom Theater „Relevanz“ verlangt, amüsiert sich abends im Kino oder vor dem Fernseher über Inhalte und Formen, die nun wirklich mit der Gegenwart so viel zu tun haben wie eine Angelpartie mit den Börsenkursen.

Problematisch wird die Annäherung des Theaters an die Erfahrungswirklichkeit, wenn sie dem Gegenwartsbezug die ästhetischen Mittel opfert, also eben das, was Theater ausmacht, was es von Journalismus oder Sachbüchern unterscheidet. Diese Tendenz lässt sich (jedenfalls in Deutschland) nicht leugnen, und sie signalisiert mit großer Deutlichkeit einen Verlust. Er entspricht Veränderungen in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen an den Universitäten. Literatur als ästhetisches Artefakt interessiert selbst Professoren, erst recht deren Studenten immer weniger. Unter dem Etikett der Kulturwissenschaft wird mehr und mehr danach geforscht, was Literatur für ihr fremde Zwecke, für Wissensvermittlung etwa oder gar für die Wirtschaft, leisten kann. Dahinter steckt eine aggressive und banausische Kunstfeindlichkeit. Und wenn es nicht so pathetisch klänge, würde man versichern, dass die Entsorgung der Kunst, an den Universitäten, den Schulen und im Theater, die Entsorgung von Menschlichkeit bedeutet. Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Aber auch nicht allein von Wissen, das nicht selten nur eine Verdoppelung des bereits Gewussten ist. Und im Übrigen: Wissen besteht nicht nur aus Daten und Fakten, sondern auch aus der Wahrnehmung von Differenzen. Die ist ohne Kenntnis der Geschichte nicht zu haben, nicht ohne Kenntnis der Realgeschichte und nicht ohne Kenntnis der Theatergeschichte von der Antike bis zu Meyerhold, Artaud und Brecht.

Das Theater ist in einer Zeit angekommen, deren gelegentliche Ähnlichkeit mit der Gegenwart darüber hinwegtäuscht, dass sie nirgends angesiedelt ist. Denn wenn man die Zeit, in der ein Stück entstanden ist und in der es spielt, wegretuschiert, dann eliminiert man die Geschichte. Hinter diesem allgegenwärtigen Geschichtsverlust steckt die reaktionäre Ideologie, dass immer alles gleich bleibt. Wer sie akzeptiert, muss gegen einen schlechten Status quo nicht rebellieren. Es kommt eh nichts Besseres nach. Es war immer schon so und wird immer so bleiben.

Im schlimmsten Falls ist die Forderung nach „Gegenwartsbezug“, die zwanghafte Suche nach „Entsprechungen“ nur noch einfältig. Der Preis für solche aktualisierenden Übersetzungen ist nicht allein, dass dem Zuschauer das Vergnügen an der eigenen Denkarbeit abgenommen wird, sondern ärgerlicher noch, dass die „Entsprechungen“ in ihrer Struktur nicht aufgehen. Indem man auf gegenwärtige Erfahrungen rekurriert, torpediert man die Neugier für das Andere, das Fremde und sehr oft für eine Kunst, die nicht zeigt, was ist, sondern was sein könnte. Die Entsorgung von Geschichte bedeutet, nur scheinbar paradox, die Entsorgung von Utopie. Das Verblüffende mancher gegenwartsbezüglicher Ersetzungen ist nicht, wie es zunächst scheinen mag, intelligent, sondern dumm, weil sie nicht zu Ende gedacht sind.

Umgekehrt können manche Inszenierungen, die auf den ersten Blick „museal“ erscheinen, in Wahrheit Erkenntnisse fördern, die im zweiten Schritt durchaus gegenwartsrelevant sind. „Museal“ ist das Schlagwort von Kritikern, die sich auf Absichten von Regisseuren nicht einlassen und stattdessen reagieren wie Pavlovsche Hunde. „Museum“ ist ja auch ein Synonym für Geschichte. Es bewahrt auf, was einmal von Bedeutung war, und die Rekonstruktion dieser Bedeutung im Zusammenhang liefert im Unterschied zu vielen heutigen Bedeutungssystemen Aufklärung.

Theater kann, muss aber nicht mit uns zu tun haben. Wie ein Bild, wie eine musikalische Komposition, wie der See im Sonnenuntergang. Was ist es bloß, was so viele Zeitgenossen auftreten lässt wie stalinistische Kunstfunktionäre? Warum bescheiden sie sich nicht damit, aufzusuchen, was sie vorziehen, was ihnen gefällt? Warum, um alles in der Welt, müssen sie ein Dogma verkünden, die eine einzige richtige Lehre: was Theater zu sein und zu tun habe. Was Tucholsky über die Satire sagte, gilt auch für das Theater: „Was darf die Satire? Alles.“

Erstellungsdatum: 03.06.2025