Unerhörte Begebenheiten aus dem Leben von Schriftstellerinnen und Schriftstellern sind nur möglich, wenn diese ihren Beruf gerade nicht ausüben, sondern zu Lande, zu Wasser und in der Luft unterwegs sind, Kegeln, Musizieren, auf der Jagd oder einer Party auffallen, kurz, wenn sie das tun, was andere Menschen auch tun – wenn Weltliteraten also von der Grundannahme, keine normalen Menschen zu sein, abweichen. Ruthard Stäblein schreibt, warum und wie die „111 Actionszenen der Weltliteratur“ zu lesen sind.
„Geh mir aus der Sonne, sprach Diogenes in der Tonne“ – zu Alexander dem Großen. Mit dieser Anekdote wird das Streben nach Selbstgenügsamkeit des antiken Philosophen Diogenes von Sinope kurz gebündelt. Selbst Adornos Kierkegaard-Buch beruhte auf einem biographischen Detail. – Adorno überführte den Dänen als Eigenbrötler und ohnmächtigen Idealisten der Innerlichkeit, weil der sich in sein Studierzimmer einschloss und die Außenwelt durch einen „Spion“ betrachtete. So nannte man einen Spiegel, der am Außenfenster angebracht war. Ähnliche Abkürzungen suchte auch Wilhelm Weischedel auf seiner „philosophischen Hintertreppe“. –
All diesen Ansätzen ist gemein, dass sie mit einem „Biographem“ (Roland Barthes) ein Werk aufschlüsseln wollen, verständlich sind und mit einem Schlag einleuchten. Einen solchen Weg schlagen auch die Herausgeber Mara Delius und Marc Reichwein mit ihren „111 Actionszenen der Weltliteratur“ ein, „als wäre man selbst dabei“. Ihr reißerischer Titel kann auch Beispiele dafür liefern, wie etwa die „bärenstarke“ Aktion von Tolstoi, der einen Braunbären anschoss und dann fast von ihm niedergestreckt worden wäre. Und schließlich Pazifist wurde.
Oder das Duell von Marcel Proust mit Jean Lorrain. – Der schwule Lorrain hatte Proust öffentlich als Homosexuellen bezichtigt und beleidigt. Proust kaschierte dagegen lieber seine „Introvertiertheit“ und die seines Erzählers Marcel; so umschrieb er es, „Im Schatten aufblühender Mädchen“.–
Oder wie Norman Mailer seine Frau fast erstach, sich danach rühmte, gar mit Bewährung davonkam, sich also als US-Macho-Mann bewies.
Nur erschöpfen sich diese mehr oder weniger ruhmvollen Beispiele schnell. Denn es gibt nicht so viele Action-Literaten, die auf Großwildjagd gehen wie Hemingway, mit Waffen handeln wie Rimbaud oder sich einen Dolch in den Bauch rammen, wie Yukio Mishima.
Meist sind Autoren doch eher „Eigenbrötler“, Abstandhalter, Melancholiker, die ihre Abenteuer erfinden und sich wie dem Leser einbilden, „dabei zu sein“.
So wird denn gleich im Vorwort das Versprechen von „action“ abgeschwächt und zugleich erweitert auf „eigentliche, kuriose, unerhörte Episoden im Leben ihrer Schöpfer“. Mit dieser Vorgabe und diesem Vorbehalt öffnen die beiden Delius und Reichwein eine wahre Schatzkammer an witzigen Fällen und Unfällen, die den großen Autor/Innen der Weltliteratur „en passant“ passiert sind.
Das Spektrum von „Weltliteratur“, das hier aufgespannt wird, reicht von Homer bis David Foster Wallace, ist eher auf die hohe Literatur und die großen Namen fixiert. Nur am Rand tauchen Autoren der Unterhaltungsliteratur auf. Aber wie diese Schriftsteller in entscheidenden Szenen ihres Lebens präsentiert und erzählt werden, ist höchst unterhaltsam, amüsant, komisch, zuweilen erschreckend und entlarvend, kenntnisreich, einfach köstlich schillernd bis brillant. Die 25 AutorInnen des Bandes, häufig Mitarbeiter und Rezensenten der „Literarischen Welt“, wie Wieland Freund, Rainer Moritz, Richard Kämmerlings und insbesondere Marc Reichwein, der auch die meisten und pointiertesten Schnappschüsse beiträgt, schaffen es, Nebensächliches so darzustellen, als sei es die Hauptsache der Weltliteratur. Manchmal ist das so verblüffend, wie die Phänomenologie von Jean-Paul Sartre, der aus einem Cocktailglas oder dem Gegenblick des Kellners im „Cafe de Flore“ seinen gesamten Existenzialismus ablesen konnte.
Mancher Beitrag ist vielleicht etwas zu plump im Ansatz und nichtssagend im Ergebnis. Auch unterlaufen den Herausgebern im Vorwort Druckfehler wie Willy Hass, statt Willy Haas, auf den sich Delius und Reichwein zu Recht berufen, als Vorgänger der heutigen „Literarischen Welt“, der als damaliger Herausgeber in den 1920er und frühen 1930er Jahren auch Artikel über die „wichtigsten Bärte der Weltliteratur“ abdruckte. Schwerer wiegen inhaltliche Fehler wie der von Tilman Krause, der behauptet, Voltaire sei nie verhaftet worden. (Gleich dreimal wurde er eingesperrt, zweimal in die Bastille und einmal in Frankfurt.)
Insgesamt ändert das nichts daran, dass diese Sammlung von scharf gestellten Kurzportraits neben den Anekdoten, die Diogenes Laertius, Wilhelm Weischedel, Roland Barthes und sogar Adorno als Schlüssel zum Werk weiter gereicht haben, im Bücherregal bestehen kann.
Mara Delius/ Marc Reichwein (Hg.)
111 Actionszenen der Weltliteratur
384 S., geb.
ISBN: 978-3-8477-0483-6
Andere Bibliothek. 477. Band
Aufbau Verlag, Berlin 2024
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Erstellungsdatum: 18.05.2025