MenuMENU

zurück

Aus dem Notizbuch

Unterwegs

Eldad Stobezki


Wem die Stunde schlägt: Wappen der Inselgemeinde Baltrum. Foto: Ulf-Dietrich Korn. wikimedia commons

Wer reif für die Insel ist, will abgeschieden sein vom Alltag, vom Dienst. Das mittelhochdeutsche urloubede, aus dem unser Urlaub kommt, bedeutete die Erlaubnis zu gehen, die Verabschiedung. Das klingt endgültig und wird gegenwärtig mit der Verabschiedung ins Rentnerdasein auch so gesehen, spätestens dann, wenn Menschen anfangen, die toten Bekannten zu zählen. Aber Eldad Stobezki auf der Insel Baltrum hat auch Sinn für Weihnachtsmärchen, Fliegen, Schildkröten und Getreide.

 

Den Übersetzern, die viele Jahre für uns tätig waren, teilte ich gestern mit, dass das Übersetzungsbüro zum Jahresende schließt. „Ach, wie schade!“, antwortete unser Deutsch-Italienisch-Übersetzer. „Übersetzt die KI schneller und billiger?“, fragte er und schrieb weiter: „Ich habe auch ‚zugemacht‘. Bin jetzt in Rente. Meine Frau und ich durchsehen gemeinsam die Welt.“ Ich wünschte ihm eine schöne und weite „Durchsicht“.

./.

Beim Kaffee erinnerte sich eine Freundin an den Weihnachtsmann, der jedes Jahr Geschenke brachte. Es war immer derselbe Mann. Sie hatte nie an das Märchen geglaubt – sie wusste, dass es der Nachbar war. Sie erkannte ihn an seinem Schweißgeruch. Trotzdem tat sie jedes Mal ganz erstaunt. Es machte ihr Spaß, dass ihre Eltern so viel Freude daran hatten, sie mit dem Weihnachtsmann zu überraschen.
Sie war keine Spielverderberin.

./.

Beim Leichenschmaus nach der Beerdigung bemerkte eine gleichaltrige Freundin, dass sie „noch nicht so viele Tote hat“. „Schön für dich“, sagte ich, „ich habe schon einige.“ Wann erreicht man im Leben die Gabelung, an der man mehr Tote als Lebende kennt?

./.

„Mein Alter Ego ist in die Jahre gekommen“, sagte der Schriftsteller an seinem achtzigsten Geburtstag.

./.

Wir sahen im Fernsehen die Übertragung des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. Die sieben Juroren diskutierten nach jeder Lesung ernsthaft über den gerade gehörten Text. Die Kamera fokussierte sich auf eine Fliege, die auf dem Podium herumspazierte.

./.

Baltrum: Es regnete. Ich blieb zu Hause und schaute mir im Fernsehen eine Tiersendung aus dem Hamburger Zoo Hagenbeck an. Die Schildkröte Leopold wurde geputzt – Anlass war sein 100. Geburtstag. Der Tierpfleger erklärte stolz: „Er ist ein Mann in den besten Jahren. Er deckt noch fleißig.“

./.

Am Strand fiel mir eine fünfköpfige Familie auf. Die Eltern spielten liebevoll mit ihren kleinen Kindern. Ich überlegte, wie man „fünfköpfige Familie“ auf Hebräisch sagt. Die Übersetzung lautet: Eine Familie mit fünf Seelen.

./.

Im Café Knusperhuuske auf Baltrum unterhielten sich zwei Damen über ihre Ehemänner. Die eine klagte über ihren wetterwendischen Mann. Die andere sagte: „Ich habe mir einen tideunabhängigen gesucht.“

./.

Die Dünen auf Baltrum sind ein Biotop für Pflanzen und Tiere. Darunter: pulveriger, weißer Sand. Wie gut, dass hier nie nach seltenen Erden gebohrt wird.

./.

Wir fuhren mit dem Bus vom Hafen in Neßmersiel zum Bahnhof Norden. Rechts und links der Straße dehnten sich Felder aus – Weizen, Roggen, Gerste, Raps, Hafer, Mais. Die Frau hinter mir sagte lapidar zu ihrem Mann: „Getreide.“

 

 

Eldad Stobezki
Rutschfeste Badematten und koschere Mangos

Gebunden, 150 Seiten
ISBN 9783949671159
Edition-W, Frankfurt, Frankfurt 2024

Buch bestellen

Erstellungsdatum: 27.08.2025