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Marine Le Pen und die „Justiztyrannei“

Vorsätzlich begangener Betrug

Jutta Roitsch


Nicht nur schlechtes Benehmen zeichnet die Repräsentanten rechtsextremer Parteien diesseits und jenseits des Atlantik aus, sondern auch unverhohlene Korruption, die dreiste Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses und die Akzeptanz der Gesetze nur zum Eigennutz. Will die Exekutive ihre Glaubwürdigkeit nicht verlieren, muss sie Gesetzesverstöße ahnden. Weil das in Frankreich jetzt geschah, mobilisiert Marine Le Pen ihre Anhängerschaft gegen die Justiz. Jutta Roitsch hat genau hingesehen.

 

Die Maske der gepflegten Bürgerlichkeit mit Kostümchen und Krawatte ist gefallen: Nach dem Urteil des französischen Strafgerichts vom 31. März in Paris mit Haft- und hohen Geldstrafen sowie dem zeitweiligen Entzug der passiven Wählbarkeit ziehen die rechtsextreme Marine Le Pen und ihre Getreuen in der Nationalversammlung, in den Medien und auf dem Place Vauban mitten in Paris gegen „das System“, das eine „Atombombe“ gezündet habe, gegen die „roten Richter“ und die „Justiztyrannei“ zu Felde. Die Kampagne des Rassemblement National (RN) und die sonntägliche Mobilisierung des „Volkszorns“ auf dem Platz Vauban sind eine beispiellose Missachtung der Gewaltenteilung, eines unabhängigen Gerichts und eines Urteils auf der Grundlage von Gesetzen des französischen Parlaments: Marine Le Pen hält sich und ihre Ambitionen, in zwei Jahren zum vierten Mal für die Präsidentschaft zu kandidieren, für wichtiger als die Achtung des Rechtsstaats.

Mit Sätzen wie: „Ich lasse mich nicht so eliminieren“ und „wir sind da bis zum Sieg“ pocht sie auf ihren Anspruch auf eine Kandidatur und stellt sich über das richterliche Urteil: Das „Volk“ entscheide über sie an der Urne und nicht die Justiz. Ihr einstiger Kampagnendirektor, der Abgeordnete Jean-Philippe Tanguy, verstieg sich in der Nationalversammlung am 1. April zu der Behauptung, der RN lasse sich „die Hoffnung des französischen Volkes“ nicht stehlen. Das Echo aus Washington erfolgte prompt: Donald Trump geißelte die „Hexenjagd“ und rief zur „Befreiung“ Le Pens auf. Ist Frankreich auf dem Weg in den Trumpismus?

Die Fülle des belastenden Materials

„Der finstere Tag für unsere Demokratie“, so Marine Le Pen im französischen Fernsehen, ist für sie dieser letzte Tag im März. Nach monatelangen Verhandlungen entschied ein Strafgericht in erster Instanz gegen neun ehemalige Abgeordnete im Europa-Parlament, zwölf so genannte parlamentarische Assistenten sowie den Schatzmeister und Buchhalter des Front National (FN), zwölf Jahre lang (2004 bis 2016) geplant und „zentral organisiert“ öffentliche Gelder (der EU) in Millionenhöhe veruntreut und damit gegen französische Gesetze zur politischen Moral und Transparenz aus dem Jahr 2016 /2017 verstoßen zu haben. Auf 152 Seiten (wesentliche Auszüge in Le Monde vom 2.April) beschreiben die Richter in ihrem Urteil, mit welcher Systematik und fiktiven Verträgen Vater und Tochter Le Pen die öffentlichen Gelder für die Arbeit der Abgeordneten in Brüssel zur Finanzierung ihres Parteiapparats von der Sekretärin bis zum Bodyguard „umgeleitet“ haben. Der Einblick, den das Urteil in das „Familienunternehmen“ Front National gewährt, das sich vor sieben Jahren in Rassemblement National umbenannt hat, ist ebenso eindrucksvoll wie die Fülle des belastenden Materials.

Die Richterin Benedicte de Perthuis und ihre beiden Kollegen haben jeden einzelnen Vertrag der „parlamentarischen Assistenten“ geprüft, die „Komplizenschaft“ des Schatzmeisters und Buchhalters nachgewiesen und leutselige Briefe an die FN-Präsidentin Marine Le Pen gelesen, in denen sie gefragt wurde, ob man denn mal den Abgeordneten, für den man angeblich arbeite, persönlich kennenlernen dürfe. Punkt für Punkt weisen die Richter nach, wie das System unter der straffen Führung Marine Le Pens zentralisiert und perfektioniert wurde: Unter ständiger Missachtung der demokratischen Regeln in der EU und französischer Gesetze zur politischen Transparenz und Redlichkeit.

Unter Beobachtung stand der FN in Brüssel schon länger, aber aufgeflogen ist die Finanzierungspraxis der Partei erst durch OLAF (Office de Lutte Anti-Fraude), das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, und eine Richtlinie von EU-Parlament und Rat zur strafrechtlichen Bekämpfung (2017). Danach haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, „dass vorsätzlich begangener Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union eine strafbare Handlung darstellt“ (Artikel 3,1).

Das Risiko einer betrügerischen Grundhaltung

Voilá, Madame Le Pen. Wer den Urteilstext aufmerksam liest, spürt die Empörung über die Unverfrorenheit, mit der die Anwälte der Angeklagten und insbesondere Marine Le Pen selbst in mündlichen Verhandlungen im November 2024 jeden Betrug und jeden Verstoß gegen Richtlinien oder Gesetze geleugnet haben. In großer Geschlossenheit verweigerten die Beteiligten im Verlauf des Prozesses jede Aufklärung und Aussagen. Dies sei ein „politischer Prozess“, so Le Pen bereits im November, in dem es um ihren politischen Tod ginge, obwohl doch elf Millionen Französinnen und Franzosen sie in den letzten Wahlen gewählt hätten. Für sich als Abgeordnete und dreimalige Kandidatin um das Präsidentenamt forderte sie daher mit großer Geste Immunität und Straflosigkeit. Angesichts der erdrückenden Beweise eine Anmaßung.

So müssen es auch die drei Richter bei der Abfassung ihres Urteils empfunden haben, denn sie holen in der Begründung weit aus und sparen nicht mit Anmerkungen sehr grundsätzlicher Art, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien, die politische Klasse keine Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen könnte und „ein Teil der Wählerschaft“ noch nicht „im Namen des französischen Volkes“ bedeute. Bei der Auslegung des Gesetzes aber gehe es um das große Ganze, den „sozialen Konsens“: „au noms des citoyens français dans leur ensemble“. Nach dieser Lektion zur demokratischen Rechtsstaatlichkeit gehen die Richter auf den sofortigen Entzug der passiven Wählbarkeit für Marine Le Pen ein: Diese Passagen genau zu lesen und zu wägen, wird die Herausforderung der nächsten Wochen und Monate, ja, vielleicht auch Jahre sein: In der scharfen politischen Auseinandersetzung und in den Verhandlungen vor den Berufungsgerichten, die Le Pen und alle anderen 23 Angeklagten angerufen haben.

In der Verweigerung Marine Le Pens, die materielle Kompetenz des Gerichts, die Anklage und die darin dokumentierten Tatsachen überhaupt anzuerkennen, sehen die Richter das Risiko einer betrügerischen Grundhaltung. Kurz gesagt: Sie und ihre Partei werden es wieder so machen und das französische Volk, in dessen Namen das Urteil ergangen ist, muss es wissen, unabhängig davon, was auf den verschiedenen Ebenen der Berufungsmöglichkeiten letztlich herauskäme. Die Verhängung der unmittelbar wirksamen Nichtwählbarkeit der Marine Le Pen für fünf Jahre sei verhältnismäßig „aux objectifs à valeur constitutionnelle de sauvegarde de l’ordre public et de bonne administration de la justice“.

Ein außergewöhnliches Entgegenkommen

Mit diesem Satz, der die Werte der Verfassung, der öffentlichen Ordnung und der guten Justizverwaltung beschwört, geben die drei Richter zu erkennen, dass sie wissen, welche Auseinandersetzung zwischen Justiz und Politik sie da herausgefordert haben. Und dass sie Zweifel haben, ob sie zugunsten der Justiz ausgeht. Diese Auseinandersetzung hat bereits begonnen, mit Wucht, mit Morddrohungen gegen Benedicte de Perthuis, mit „Irritationen“ über das Urteil beim Premierminister François Bayrou, vorschnellen Besänftigungen von Justizminister Gérald Darmanin und Generalstaatsanwälten. Politik und höhere Justizinstanzen scheinen bereit zu sein, dem angedrohten „Volkszorn“ der Marine Le Pen entgegenzukommen. Dauerten Berufungsverfahren in früheren Fällen von politischem Betrug (Alain Juppé, François Fillon) zwei bis drei Jahre, so fällt die Eile auf, mit der ein Generalstaatsanwalt wie Rémy Heitz beim Kassationsgerichtshof die „schnelle Prüfung des juristischen Kalenders“ versprach. Und schon einen Tag später ein Termin verkündet wurde: Im Sommer 2026 findet das Berufungsverfahren statt, ein knappes Jahr vor den nächsten Präsidentschaftswahlen. Ist dieses außergewöhnliche Entgegenkommen, das gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt, ein politisches Signal an die Adresse der Rechtsextremen, dem „System“ nicht weiter offen den Krieg zu erklären, wie es der Parteivorsitzende Jordan Bardella und sein Vize Louis Aliot am Sonntag auf dem Place Vauban getan haben?

Es ist erstaunlich, wie es Marine Le Pen in Windeseile geschafft hat, sich zum Opfer der „linken Justiz“ zu stilisieren, ihre Anhänger zum „Kampf um Bürgerrechte“ aufzurufen und sich selbst mit Martin Luther King zu vergleichen. Eine groteske Wende in einem geplanten und perfektionierten politischen Betrugsfall. Ob die Französinnen und Franzosen, die demokratischen und republikanischen Bürger dieses finstere Spiel durchschauen? Oder werden sie mitspielen?

 

 

Der Beitrag erschien zuerst im Blog „bruchstücke“. 

Erstellungsdatum: 09.04.2025