Die Ursache des Konflikt auf die Tutu-Fraktion der konservativen Ballett-Liebhaber abzuschieben, wäre zu einfach. Was Pina Bausch in Wuppertal ins Werk setzte, war ein Angriff auf das Selbstverständnis der Kategorie Ballett, die Ersetzung der formalisierten Choreographie durch eine permanent sich weiterentwickelnde, emotionalisierte Körpersprache. 15 Jahre nach ihrem Tod haben viele Kollegen von ihr gelernt, – ob sie’s wissen oder nicht. Walter H. Krämer erinnert an die große Tänzerin und Choreographin.
Vor 15 Jahren starb Pina Bausch am 30. Juni 2009 völlig unerwartet mit 68 Jahren. Kurz zuvor hatte noch eine letzte Uraufführung Premiere: „... como el musguito en la piedra, ay si, si, si ... (... wie das Moos auf dem Stein ...)“. Der Titel – postum beigefügt – ist eine Zeile aus dem Lied „Volver a los 17“ der chilenischen Sängerin Violeta Parra.
Pina Bausch wurde 1940 in Solingen geboren, war Tänzerin von Kindheit an und entwickelte sich zu einer der wichtigsten und innovativsten Choreographinnen weltweit. Über 40 Werke hat Pina Bausch für das Tanztheater Wuppertal choreografiert und immer dafür gesorgt, dass die meisten ihrer Stücke im Repertoire blieben und gezeigt wurden. Auf diesen choreographischen Reichtum kann die Compagnie nach ihrem Tod 2009 zurückgreifen.
Mit 14 Jahren wird sie an der Essener Folkwang-Hochschule unter Leitung von Kurt Joos ausgebildet. Ein Stipendium führt sie nach Amerika. Mit 21 tanzt sie an der Metropolitan Opera in New York. Trotz ihrer anfangs starken Bedenken konnte Arno Wüstenhöfer, der damalige Intendant der Wuppertaler Bühnen, Pina Bausch mit Beginn der Spielzeit 1973/1974 als Leiterin der Tanzsparte für die Wuppertaler Bühnen gewinnen.
Eine Entscheidung, die nicht überall auf Gegenliebe stieß. Einerseits bildete sich schnell eine Gruppe von Bewunderern und begeisterten Fans ihrer Arbeiten heraus. Andererseits formierte sich besonders bei eher traditionell orientierten Besuchern erbitterter Widerstand, der von Buhrufen im Theater über tätliche Angriffe wie Anspucken bis zu nächtlichem Telefonterror reichte. Und auch die Mitglieder des Orchesters und des Chores verweigerten ihr Unterstützung. So kam – und das erwies sich als Glücksfall für spätere Tourneen – Pina auf die Idee, die Musik über Band einspielen zu lassen.
Unter dem Namen Tanztheater Wuppertal – Pina Bausch hatte gleich zu Beginn ihrer Leitungsfunktion diese Bezeichnung gewählt – erfährt die Compagnie weltweit Anerkennung. Wuppertal wird zum Wallfahrtsort für Tanzbegeisterte aus der ganzen Welt und die Premiere eines neuen Stückes zum fest eingeplanten Termin.
Wuppertal – eine Alltagstadt und keine Sonntagsstadt – bleibt zeitlebens ihre Wohn- und Arbeitsstadt: „Es gibt Städte, die sind wie Sonntagsstädte. Ich finde aber wichtig, konfrontiert zu sein mit der Wirklichkeit, weil man ohnehin so wenig draußen ist.“, so Pina Bausch in einem Interview.
Pina Bausch verband erstmals den Tanz mit den Genres Gesang, Pantomime, Artistik und Schauspiel zu einer neuen Kunstgattung. Sie löste herkömmliche Handlungsstrukturen in einzelne Szenen auf und setzte sie mittels Collage und Montage neu zusammen. Sie erfand jenseits des klassischen Balletts eine neue Körpersprache und damit verbundene Bewegungen und Bewegungsabläufe: eine Revolution innerhalb von Tanz und Theater. Wichtig waren auch Bühnenbildner Rolf Borzik und Peter Pabst, genauso wie die Kostümbildnerin Marion Cito – mit denen sie über all die Jahre zusammenarbeitete.
Sie ging dazu über, ihren Tänzer:innen Fragen und Aufgaben zu unterschiedlichen Themen und Situationen zu stellen: „Mach mal etwas ganz Kleines. Etwas abbrechen, was ist dann? Etwas Gefährliches mit einem niedlichen Gegenstand tun. Eine Geste, die etwas mit Hilflosigkeit zu tun hat.“
Pina Bauschs Arbeiten erzählen über Ängste, Träume, Freuden und Hoffnungen – nicht nur die der Tänzer:innen, sondern auch über die der Zuschauerinnen. „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt“ – war das Leitmotiv all ihrer Arbeiten.
Mit einem Brecht-Weill-Abend im Jahre 1976 – „Die sieben Todsünden“ – erprobte Pina Bausch neue Formen der Tanzkunst. Die literarisch-musikalische Vorlage bearbeitete sie stark und entwickelte eine Collage einzelner Szenen, die Brechts Texte in loser Folge gesprochen, gesungen und getanzt auf die Bühne brachte.
1980 wurde Bausch mit „Arien“ erstmals zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Im Jahr darauf folgte die zweite Einladung mit „Bandoneon“. 1985 die dritte Einladung mit „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört“. 1983 wurde sie mit „Nelken“ zum Festival von Avignon eingeladen, einem der größten Theaterfestivals weltweit.
Ein Jahr später, 1984, erhielt Pina Bausch den Deutschen Kritikerpreis für „die Entwicklung neuer ästhetischer Maßstäbe, die weit über die deutsche Tanzszene hinausreichen“. Weitere nationale und internationale Preise folgen. So unter anderen der japanische Kyoto-Preis und in Venedig der Goldene Löwe für ihr Lebenswerk.
Das Mitfühlen und Mitgefühl war die wichtigste Motivation zu ihrem Lebenswerk. In einem ihrer seltenen Interviews äußerte Pina Bausch einmal: „Es ging und geht mir immer nur darum: Wie kann ich ausdrücken, was ich fühle?“
Durch ihren Respekt und ihr bedingungsloses Vertrauen zu ihren Tänzer:innen konnte das Ensemble auch seine intimsten Empfindungen entdecken und äußern. Der Tanzexperte und Pina-Bausch-Biograph Jochen Schmidt hob diese Dimension in einem Nachruf hervor: „Schon am Ende der siebziger Jahre stand der Name Pina Bausch für ein Theater der befreiten Körper und des befreiten Geistes, für ein Tanztheater der Humanität, das auf der Suche war nach Liebe, Zärtlichkeit und Vertrauen zwischen den Partnern – und nach einer tänzerischen Sprache, die in der Lage sein würde, jene Kommunikation zwischen den Menschen zu ermöglichen, zu denen die bekannten Sprachen nicht mehr fähig waren.“
Pina Bauschs Stücke sind Collagen und Montagen, Bilderfolgen an der Grenze zwischen Realität und Traum, mit vielen Parallelhandlungen, die gleichzeitig auf der Bühne ausgeführt werden.
Ihre Stücke handeln von sehr persönlichen und gleichzeitig universellen Themen: von Ängsten, Terror, Tod, Verlassen werden, Liebe und Sehnsucht und dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Kinderspiele wurden vorgeführt, Männer trugen Frauenkleider, aus Zärtlichkeiten wurde Gewalt und umgekehrt. Immer waren die gefundenen Bilder so ungewöhnlich wie möglich. Die Masken und Verhaltensweisen, die ein Mensch in der Gesellschaft zeigt, wurden aufs Korn genommen. „Alles muss man anschauen, die Gegensätze, die Reibungen, das Schöne und das Schmerzliche. Nichts darf man auslassen. Nur so kann man ahnen, in welcher Zeit man lebt. Es geht um das Leben und darum, für das Leben eine Sprache zu finden“ so Pina in einer Dankesrede.
„Arien“ zeigt die unglückliche Liebesgeschichte zwischen einer Frau und einem Nilpferd. In „Café Müller“ stolpern die Tänzer auf der Bühne um Tische und Stühle, oft mit geschlossenen Augen.
Pina Bausch arbeitete unermüdlich, oft bis zur Erschöpfung und wollte auch gerne noch nach Proben mit ihren Tänzer:innen unterwegs und zusammen sein. Ihr „Och, nee, nee, noch nicht nach Hause, erst noch en Weinchen – en Weinchen und ein Zigarettchen, aber nicht nach Hause, ne?“ fand Eingang in eines ihrer Stücke.
Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein erforschte Leben und Werk von Pina Bausch und zeigt, wie Bausch mit dem Tanztheater Wuppertal den Tanz revolutionierte und ihn aus der Sklaverei der Schönheit befreit hat, um für das Leben eine Sprache zu finden.
Nach dem Tod der Choreographin am 30. Juni 2009 musste das Tanztheater Wuppertal ohne Pina Bausch auskommen und einen eigenen Weg finden: Neue Stücke mit anderen Choreograph:innen erarbeiten, bestehende Choreographien von Pina Bausch anderen Compagnien überlassen. Aus diesem Grund vertritt seit Januar 2016 der Verlag der Autoren für die Pina Bausch Foundation – gegründet 2009 von ihrem Sohn Salomon – weltweit und exklusiv die Aufführungsrechte an dem Werk der großen Choreographin.
Aufgabe der Foundation ist es, das künstlerische Erbe der Choreographin lebendig zu halten und in die Zukunft zu tragen, damit ihre Stücke immer wieder auf einer Bühne – und das weltweit – aufgeführt werden.
Die Foundation verfügt auch über ein umfangreiches Archiv. Im Archiv finden sich viele Fotos, Videos und Dokumente zu Pina Bauschs Werk. Das Archiv ist zentral für die Arbeit mit Pina Bauschs Stücken und deren Einstudierungen. Die Fotos und Videos kommen bei den Proben zum Einsatz. Auch die Kostüme und Bühnenbilder sind im Archiv dokumentiert, und jeder kann auf die Materialien zugreifen und mehr über Pina Bausch und ihr Werk erfahren.
Das Archiv und die Bühnenaufführungen finden bald einen neuen Ort. In und um das ehemalige Schauspielhaus Wuppertal entsteht das Pina-Bausch-Zentrum – gedacht als ein internationaler Ort für Tanz.
15 Jahre nach dem Tod von Pina Bausch ist deutlich, welch reiches Erbe sie hinterlassen hat und wie es auf dieser Grundlage weiter geht.
Das Programm des Tanztheaters im 21. Jahrhundert wird eine Balance zwischen dem Repertoire der Stücke von Pina Bausch und neuen Positionen aus der performativen Kunst schaffen. Um ihr künstlerisches Spektrum und damit das öffentliche Interesse zu erweitern, beabsichtigt die Compagnie, auch Genregrenzen überschreitende Kooperationen mit Künstler:innen aus anderen Gebieten der Kunst einzugehen.
In der Spielzeit 2024/2025 werden folgende Stücke von Pina Bausch wieder aufgenommen und in Wuppertal gezeigt:
Viktor – am 25. + 26. + 27.10.2024 / Vorverkauf läuft bereits
Kontakthof – am 23. + 24. + 28. + 30.11. + 1.12.2024 / Vorverkauf ab dem 27.09.2024
Áqua – am 24. + 25. +26. + 28. + 29. + 31.01. + 1.02.2025 – Vorverkauf ab dem 2.11.2024
Die sieben Todsünden – am 12. + 13. +15. + 16. +17. + 19. + 20. + 21.04.2025 / Vorverkauf ab dem 14.02.2025
Die Vorstellungen beginnen sonntags um 18 Uhr an allen anderen Tagen um 19:30 Uhr im Opernhaus Wuppertal
Erstellungsdatum: 12.09.2024