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Rolf Henrich: „Der vormundschaftliche Staat“

Wer wollen wir sein?

Jutta Roitsch


Rolf Henrich mit Bärbel Bohley, Mitbegründer der Bürgerbewegung Neues Forum (DDR), Leipzig 1990. Foto: Friedrich Gahlbeck/Bundesarchiv

Identität ist ein Wort, mit dem gerade viel Schindluder getrieben wird. Aber gerade, wenn sich den „ostdeutschen“ Bürgern die Frage nach der deutschen Identität stellt, ist die Frage ernstzunehmen und nachzufragen, woraus sich diese Identität zusammensetzt. Jahre vor dem Mauerfall hat sich Rolf Henrich in seinem Buch über den „vormundschaftlichen“ Staat damit auseinandergesetzt, an das zu erinnern Jutta Roitsch Anlass sieht.

 

„Der vormundschaftliche Staat“: In kaum einem der zur Zeit so erfolgreichen Bücher über die Ostdeutschen fehlt dieser Hinweis auf den Charakter des untergegangenen Staates namens Deutsche Demokratische Republik (DDR), der im Namen des Sozialismus „vormundschaftlich“ von der Wiege bis zur Bahre das Leben seiner Bewohnerinnen und Bewohner geregelt und gelenkt und ausgeforscht hat. Die Zuschreibung benutzen Bestsellerautoren wie Steffen Mau oder Dirk Oschmann, aber auch Ines Geipel oder Ilko-Sascha Kowalczuk, um zu beschreiben, warum sich so viele Ostdeutschen mit der Demokratie und den tragenden Institutionen einer pluralistischen Zivilgesellschaft wie Parteien, Kirchen, Verbänden oder Gewerkschaften immer noch schwer tun, warum sie gegen den Westen, die USA, die Nato und Waffenlieferungen an die Ukraine sind. Und neuen (rechtsextremen bis nationalistischen) Vormündern hinterherlaufen, die vorgeben, das Leben an der Seite des Bruderlandes Russland wieder so überschaubar und geregelt wie im einstigen vormundschaftlichen Staat machen zu wollen.

In den Literaturverzeichnissen der Bestsellerautoren fehlt jeder Hinweis auf das ursprüngliche Buch mit dem eingängigen Titel und seinen Autor Rolf Henrich. Das weckt Misstrauen, weil der schmucklose Essay-Band, erschienen im April 1989 als rororo Aktuell mit der Nummer 12536, die nach wie vor gründlichste, eindrucksvollste, allerdings teilweise auch mühevoll zu lesende Abrechnung mit dem „real existierenden Sozialismus“ ist. Zehn Jahre hatte Rolf Henrich, Bürger der DDR, Rechtsanwalt in Eisenhüttenstadt, Mitglied der SED und mit der Verdienstmedaille der DDR ausgezeichneter Funktionär, an diesem Buch gearbeitet, bevor es gerade einmal ein halbes Jahr vor dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR in Hamburg erschien. Ein paar Monate lange wurde es auf abenteuerlichen Wegen, auf zugemüllten Hinterbänken von Autos akkreditierter Journalisten in die DDR geschmuggelt und dort von Hand zu Hand gereicht. Heute ist es antiquarisch („gut erhalten“) ab 3 Euro 79 Cents zu erhalten.

Warum aber bleibt diese fundamentale Kritik eines einst überzeugten marxistischen Parteigängers an der DDR-Wirklichkeit ausgeblendet? Warum interessiert sich kaum jemand für diesen Zeitzeugen, der in diesem denkwürdigen Jahr 1989 nach dem Erscheinen seines Buches sofort Berufsverbot erhielt, zum streitbaren Bürgerrechtler wurde und mit Bärbel Bohley das „Neue Forum“ gründete? Warum erregte sein vor fünf Jahren erschienener Erinnerungsband „Ausbruch aus der Vormundschaft“ so gut wie keine öffentliche Aufmerksamkeit, obwohl Henrich darin die Jahre zwischen 1964 und 1994 klug, manchmal scharf polemisch erhellt und Mythen zur heimeligen DDR ebenso entzaubert wie Mythen über die Macht und Wirkung der Bürgerrechtler in den chaotischen Wendezeiten?

Der Zeitzeuge Henrich war und ist unbequem. In seinem „Essay“ aus dem Jahr 1989 rechnet er auf über 300 Seiten schonungslos mit dem System ab, auch mit seinen eigenen Irrtümern. „Ich habe wirklich daran geglaubt, daß die Gesellschaftsformation, in der wir leben, der praktische Fortschritt sei gegenüber dem kapitalistischen Westen; selbst wenn die spezifische Form, in der sich der Sozialismus im einzelnen konkret verwirklichte, zuerst durch ‚Geburtswehen’, später hieß es dann durch ‚Deformationen’ unübersehbar verunstaltet war“, schreibt Henrich in seinem Nachwort. Befangen in einer solchen „entwicklungslogischen Borniertheit“ hätten er und seine Freunde nach dem Bau der Mauer (1961) „unablässig die Formationsgeschichte bemüht“, um die mit dem Bau einhergehende Unterdrückung zu rechtfertigen. Diese „vorübergehende Maßnahme politischer Machtausübung“ habe die Voraussetzungen schaffen sollen, „damit sich die Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus unter den Bedingungen der Ost-West-Konfrontation ungestört entfalten könnten“. Und sich die Überlegenheit des Sozialismus beweisen könnte. „An die Möglichkeit, daß die Mauer über Jahrzehnte hinweg Bestand haben könnte, daran dachte kaum jemand.“

In seinen Grundfesten erschüttert wurde Henrichs Glaube „an die historische Überlegenheit des Sozialismus“ im Jahr 1968, als die Panzer des Warschauer Paktes in Prag einrollten und die angebliche Konterrevolution des „Prager Frühlings“ und des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ (Alexander Dubcek) brutal beendeten. „Schlagende Argumente konnte ich damals dem Gerede von der Konterrevolution (...) noch nicht entgegensetzen“, schreibt er. Dennoch sei ihm, dem damals 24jährigen, klargeworden, „daß die marxistische Geschichtsauffassung in dieser konkreten Situation nurmehr beschworen wurde, um das imperialistische Machtgebaren der Parteibürokratie zu legitimieren“. Die fehlenden Argumente lieferte ihm knapp zehn Jahre später Rudolf Bahro (der als studierter Philosoph in einer kleinen Gummi-Produktion in Berlin-Weißensee arbeitete) mit „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“. Nach der Veröffentlichung dieses Buches bei der Europäischen Verlagsanstalt in Köln (groß inszeniert vom Magazin „Spiegel“ und dem RIAS Berlin) wurde Bahro verhaftet, verurteilt, nach zwei Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen und in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. „Dieses Buch begeisterte mich“, schreibt Henrich, „mit ihm war der ideologische Bann endgültig gebrochen.“

Und so beginnt er seine Abrechnung mit dem vormundschaftlichen Staat, den Parteifunktionären, der Planwirtschaft, der Staatssicherheit und der Abwesenheit eines Rechtsstaats. Das Kapitel über „Bürokratie und Staatsplanwirtschaft“ liest sich auch heute noch spannend-hintergründig. Henrich schreibt darin über die „Anarchie in der Staatsproduktion“, wie sich die Kader der Partei oder der Gewerkschaft in den Volkseigenen Betrieben aufspielten, auch bereicherten und wie sich die Arbeiterschaft „über die da oben“ beschwerte, sich in erfolglosen Eingaben an die Partei über unsinnige Pläne lustig machte, Witze riss oder dann und wann sogar versuchte, Rechte einzuklagen. Der Anwalt aus Eisenhüttenstadt, der nach der Schule im Militär geschurigelt und in den Bergbau geschickt wurde, kennt seine Landsleute in der, wie er es nennt, „geschlossenen Gesellschaft“, die seit dem Mauerbau „an den Boden und die Maschinerie“ gefesselt seien. Er hat Menschen verteidigt, die vergeblich zu flüchten versucht oder Ausreiseanträge gestellt hatten (Prozesse, die immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, wie er in seinen Erinnerungen ausführlich beschreibt): Zwischen dem Bau und dem Fall der Mauer verließen trotz alledem fünf Millionen Menschen die DDR (nach 1989 noch einmal vier Millionen, vor allem junge Frauen, die als erste aus den VEBs entlassen und in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sinnvoller und sinnloser Art untergebracht worden waren).

Nachdenkenswert und nach wie vor aktuell aber sind vor allem Henrichs frühe Beschreibungen der „kulturellen Verödung durch den periodischen Exodus der nachgeborenen Künstlergenerationen. Das Heimatverbot, mit dem die Politbürokratie 1976 den Sänger Wolfgang Biermann belegte, wurde für viele Künstler der Anlaß, um der kulturellen Provinz für immer den Rücken zuzukehren.“ Für die Dagebliebenen habe sich die Frage gestellt: „Wer sind wir – wer wollen wir sein?“ Dieser Gedanke wird Rolf Henrich nicht mehr loslassen, weder im Essay-Band von 1989 noch in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 2019. Und er ist zu einer zentralen Frage für diejenigen geworden, die sich heute selbst „Ostdeutsche“ nennen, obwohl sie eigentlich „Mitteldeutsche“ sind, denn als „ostdeutsch“ galten einmal die Pommern, die Schlesier, die Ostpreußen.

Wer aber sind die DDRler und die Millionen, die als „Ostdeutsche“ gelten, weil sie in der DDR geboren oder sozialisiert worden sind? Im „vormundschaftlichen Staat“ geht Henrich auf „die zutiefst unverunsicherte Identität der DDR-Deutschen“ (S. 98) ein. Die „Restbestände nationaler Gefühle“ sieht er in der letzten Verfassungsänderung, die mit Volksentscheid angenommen wurde, „weichgeklopft“. Das Bekenntnis zur deutschen Nation verschwindet in der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1974. In der Präambel heißt es : „In Fortsetzung der revolutionären Tradition der deutschen Arbeiterklasse und gestützt auf die Befreiung vom Faschismus hat das Volk der Deutschen Demokratischen Republik in Übereinstimmung mit den Prozessen der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche sein Recht auf sozial-ökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet die entwickelte sozialistische Gesellschaft.“ Nach dem Artikel 6 hat die DDR nicht nur „den deutschen Militarismus und Nazismus ausgerottet“. Nach Absatz 2 ist die DDR „für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet“. Sie, so heißt es weiter, „ist untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft. Sie trägt getreu den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus zu ihrer Stärkung bei, pflegt und entwickelt die Freundschaft, die allseitige Zusammenarbeit und den gegenseitigen Bestand mit allen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft.“ Mit dieser „für immer und unwiderruflichen“ Bindung an die sozialistische Staatengemeinschaft und der aus der Verfassung gestrichenen Zugehörigkeit zu einer deutschen Nation sind die dagebliebenen DDRler bis zur Wende aufgewachsen.

Für Henrich ist diese Verfassungsänderung ein tiefer Einschnitt. „Die Systembezeichnung DDR kann das Wort Deutschland nicht einfach ablösen“, schreibt er in seinem Essay von 1989. „Mit sich selbst identisch sein heißt nicht Abgrenzung von anderen Völkern, Rassen und Systemen, das heißt aber auch nicht, daß wir uns unserer Herkunft nicht mehr erinnern.“ So kommt Rolf Henrich in dem Jahr, in dem die Mauer fallen wird, zu dem Schluss: „Solange die Frage nach der kollektiven Identität der Deutschen in der DDR auf die Abgrenzung gegenüber und die Auseinandersetzung mit dem ‚anderen’ System verkürzt wird, bleibt unser nationales Selbstverständnis und damit unsere Ich-Identität gespalten.“(S. 101)

Welch ein Satz, der schon andeutet, was den Bürgerrechtler Henrich nach der Vereinigung und dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz umgetrieben hat. Was ist Deutsch-Sein nach und seit 1990? Woraus besteht die nationale Identität eines vereinigten Deutschlands? Den Parolen „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland, einig Vaterland“ misstraut Henrich zutiefst, wie er in seinen Erinnerungen betont: „Die einst zu Mündeln des vormundschaftlichen Staates degradierten Bürger nahmen das Land per Akklamation nun in ihre Obhut, indem sie sich auf der Straße als Volk beschworen“ (S. 328). In dem „wir“ sieht er eine „einseitige Willenserklärung“. Denn zu dem Volk, „auf das die Demonstranten lautstark rekurrierten, gehörten schließlich ebenso die Brüder und Schwestern westlich der Elbe. Die aber hatten sich, wie wir es nun in zahlreichen Begegnungen erleben durften, in ihrem Rumpf-Deutschland bestens eingerichtet.“

Wie sehr sich diese Brüder und Schwestern gestört fühlten, erfuhr Henrich direkt und (für ihn) ohne Vorahnung. Ein neues nationales Wir-Bewusstsein, das er am 19. März 1990 im Nationaltheater Weimar vor einer illustren, westdeutschen Schar an Politikern und Intellektuellen von Erhard Eppler bis Horst Eberhard Richter einforderte, stieß auf wütende Ablehnung. Die Westdeutschen betonten ihr Europäerdasein und ihren Verfassungspatriotismus: Für eine Besinnung auf eine neue nationale Identität war da kein Platz. „Verfassungspatriotismus“ statt „Vaterland“ aber war einem Rolf Henrich zu wenig. „Ausschließlich und nur auf das Grundgesetz zu setzen, welches ich durchaus für vorbildlich hielt, hieß ja aber nichts anderes, als den von mir beklagten historischen und kulturellen Erinnerungsverlust festzuschreiben“, schreibt er in seinen Buch „Ausbruch aus der Vormundschaft“ (S. 342). Mit seinen Mahnungen zur Eigenverantwortung und seinen Gedanken zu einer gesamtdeutschen Verfassung und einem Referendum drang er nicht durch, weder bei seinen Bürgerrechtlern im „Neuen Forum“ noch bei Intellektuellen im Westen, deren bürgerlich-liberales Leitmedium „Die Zeit“ bis heute nicht nur eine Schweiz- und Österreich-Ausgabe hat, sondern eine „Zeit Ost-Ausgabe“.

Nach und nach zog sich Henrich aus der Politik zurück und verzichtete auf ein Ministeramt in der Regierung Manfred Stolpes in Brandenburg: Er hätte ihn an seiner Seite gebraucht. Der Schlussstrich, den er schon 1994 für sich zieht, ist nüchtern: Er will Abstand halten „zu dem Spektakel des Politikbetriebs und der lärmenden Stimmungsmache“ (S.369).

Das Unverständnis, das Rolf Henrich bei den Begegnungen mit den „Brüdern und Schwestern“ aus dem „Rumpf-Deutschland“ erlebt hatte, herrschte auch auf den ersten Begegnungen von Bürgerrechtlern aus Ost und West in Evangelischen Akademien: Sie begannen mit großen gegenseitigen Erwartungen und endeten bei der deutschen Frage in so großer Sprachlosigkeit, dass sie einmalig blieben.

„Erst langsam dämmerte mir“, schreibt der heute 80jährige Henrich, „wie gekonnt der politische Westen jedes Fragen nach der deutschen Identität ausbremste“. Ein folgenschwerer Fehler der linken, linksliberalen und liberalen Intellektuellen der einstigen Bonner Republik: Die Fragen der deutschen Identität nach der Vereinigung blieben von ihnen unbeantwortet und unbearbeitet. Diese Leerstelle füllen nun rechtsextreme und nationalistische neue Vormünder.

Rolf Henrich
Der vormundliche Staat
Vom Versagen des real existierenden Sozialismus
317 S., brosch.
ISBN-13: 9783499125362
Rowohlt Taschenbuch , Hamburg 1989

 

Rolf Henrich
Ausbruch aus der Vormundschaft
Erinnerungen
Hardcover
384 Seiten
978-3-96289-035-3
Ch. Links Verlag, 2019

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Erstellungsdatum: 11.11.2024