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Nino Haratischwilis „Europa, wach auf!“

Wir haben genug dekonstruiert

Wolfgang Rüger


Nino Haratischwili. Foto: Alexander Paul Englert

Nino Haratischwili hat schon als Jugendliche in Georgien fürs Theater geschrieben. Heute ist die Dramatikerin, Regisseurin, Essayistin und Romanautorin mit ihren Werken bekannt und erfolgreich. In ihrem Buch „Europa, wach auf!“ setzt sie sich mit der Borniertheit, Fremdenfeindlichkeit und den Vorurteilen in Deutschland auseinander, mit der immer noch traditionellen Rolle der Frau, aber auch mit der eigenen Orientierung in vorgegebenen Verhaltensmustern. Wie sie ihre Vorstellung von Freiheit in Wünsche und Forderungen gießt, hat Wolfgang Rüger ihrem Buch entnommen.

 

Joachim Unselds Frankfurter Verlagsanstalt feiert in diesem Jahr ihr dreißigjähriges Bestehen. In ihr veröffentlicht seit vielen Jahren eine der ganz wenigen internationalen Literaturstars deutscher Sprache: Nino Haratischwili. Die 1983 in Tbilissi geborene Autorin ist auch eine der wichtigsten politischen Stimmen, die die Welt aktuell hat.

Sie ist authentisch, weil sie nicht von der Theorie kommt, sondern das, über was sie schreibt, am eigenen Leib erfahren hat („ … dass ich aus Georgien komme und es dort seit meiner Geburt drei Kriege, etliche Umstürze und gewaltvolle Ausschreitungen gegeben hat“). Ihre jetzt in „Europa, wach auf!“ versammelten Texte und Reden sind erlebnisgetränkt und stellen der europäischen Politik ein erbärmliches Zeugnis aus. Wer ideologisch nicht vollkommen verblendet ist, für den sind diese Essays horizonterweiternde Plädoyers für mehr Rückgrat, Mut und Risikobereitschaft.

Gerade heute, „in der Welt der Ambivalenzen und der Undurchdringlichkeit“, ist es wichtiger denn je, Haltung zu zeigen. Haratischwilis Lösungsvorschlag, auf das Theater und die Literatur gemünzt, könnten sich im Westen auch die Wähler und vor allem die politischen Parteien auf die Fahne schreiben: „Wir haben genug dekonstruiert und auseinandergenommen, jetzt sollten wir erzählen und wieder zusammensetzen, was auseinandergefallen ist.“

Es geht darum, zusammenzustehen und Stärke zu zeigen. Die Zaghaftigkeit des Westens (in Deutschland von Merkel bis Scholz) hat die Aggression Putins ja geradezu angestachelt. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit gibt es genug (Tschetschenien, Afghanistan, Krim, Syrien), die deutlich zeigen, wo es hinführt, wenn man Expansionsgelüsten nicht gleich am Anfang entschieden Einhalt gebietet.

Ohne Regeln und Sanktionen wird der Mensch zum Tier. Butscha oder der bestialische Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 haben uns jüngst wieder vor Augen geführt, zu was Männer fähig sind. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Lessing-Preises erzählt sie ein Geschehnis aus dem Abchasienkrieg 1992, das man nicht für möglich hält. Ihren Romanen wurde immer wieder vorgeworfen, Haratischwili übertreibe es mit der Schilderung von Gewalt und Folter. Dabei erzählt sie nur, was sie gehört, recherchiert und selbst erlebt hat. Um der Wirklichkeit so nah wie möglich zu kommen, scheut sie auch nicht vor riskanten Reisen zurück (z.B. nach Tschetschenien).

Haratischwili kennt die Angst der Menschen aus den östlichen Randgebieten Europas vor Russlands Annektionslust ganz genau. „Ich komme aus einem Land, das siebzig Jahre lang Teil der Sowjetunion war und für den Kampf für die eigene Unabhängigkeit einen horrenden, blutigen Preis bezahlt hat und bis heute zahlt. Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von russischen Panzern und Soldaten, von Entbehrungen, Krisen, Gewalt, Bürgerkriegen.“ Vom Westen mehr oder weniger toleriert, hat sich Russland schon 1991 die georgischen Provinzen Abchasien und Ossetien einverleibt, und ist gerade jetzt im Begriff, sich mit Hilfe einer Marionetten-Regierung das gesamte Land erneut Untertan zu machen.

Die Mehrheit der Wähler lässt sich unreflektiert einlullen vom Versprechen der Politiker, für mehr Sicherheit zu sorgen. Das Wichtigste im Leben ist aber nicht Sicherheit, sondern Freiheit. Sicherheit ist eine Illusion und geht immer zu Lasten der Freiheit. Ohne Freiheit ist das Leben nichts oder wie Eminescu sagt: „Denn das Leben ist ein verlorenes Gut, wenn man nicht gelebt hat, wie man hätte leben wollen.“ Sicherheit ist gleichbedeutend mit Gefängnis und Unterdrückung. Freiheit ist Kreativität und Entfaltung, das Lob der Individualität. Deshalb ist die Freiheit immer das erste Opfer, auf das es autoritäre Regime abgesehen haben. Wer das nicht glaubt, braucht nur einen Blick in die Gefängnisse von Schurkenstaaten wie der Türkei, China, Belarus, Nordkorea oder Russland zu werfen.

Persönlichkeit kann nur entwickeln, wer frei ist. Frei von Ideologien, frei von Konventionen, frei von staatlicher Repression. In ihrem Essay „An meine Tochter“ veranschaulicht das Haratischwili an ihrem eigenen Werdegang. Aufgewachsen im reglementierten Sozialismus mit eingespielten Verhaltensmustern, ist ihr sehnlichster Wunsch, in den Westen auszureisen. „Schließlich setzte sich in meiner rückständigen Heimat das Frauenbild aus sozialistischer Propaganda, orientalischen Märchen und nationalistischen Heilige-Hure-Mythen zusammen, während die westliche Frau durch die 68er-Bewegung von ihren Ketten befreit worden war und durch die hundertjährige Geschichte der Emanzipation gestärkt und vom europäischen Ideal der Gleichberechtigung getragen wurde.“ Als sie endlich den erwünschten Studienplatz im Westen ergattert, stellt sie schnell fest, dass die Frauen im Westen „genauso gefangen waren in diesem unsichtbaren Spinnennetz, das ihnen vorgab, wie sie sein mussten, um zu gefallen, um zu leben, nein, um zu überleben“. Am Ernüchterndsten ist aber noch etwas viel Tiefgreifenderes: „Am schmerzlichsten aber war die Erkenntnis, dass ich zwar dem Ort entkommen war, der mich in archaische Muster und rückständige Rollen zwingen wollte, dass diese Muster und Rollen sich aber in mich eingeschrieben hatten.“

Ob Ost oder West, ob Demokratie oder Diktatur: Wenn die Freiheit eingeschränkt wird, ist kein lebenswertes Dasein und auch keine große Kunst möglich. In allen hier versammelten Texten geht es Haratischwili um die uneingeschränkten Entfaltungsmöglichkeiten für jede und jeden in allen Lebensbereichen. An ihre Tochter gerichtet, formuliert sie diese Utopie so: „Ich wünsche dir, dass du für dich das Freisein als ein leeres Blatt begreifen kannst, das du beliebig füllst und beschriftest, furchtlos, frei.“

Ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Essays ist die zunehmende Unfähigkeit der Deutschen, vorurteilsfrei mit ausländischen Menschen umzugehen. Haratischwilis Leben steht auch exemplarisch für die ganze Problematik von Migranten- und Exilantenschicksalen: „Ich war fortgegangen, um mich von jeglicher Zuschreibung, jeglicher kulturellen Einengung zu befreien. Ich wollte unabhängig sein und das tun, was ich schon immer tun wollte: schreiben und inszenieren. Ich dachte, dass es kein großes Problem darstellen dürfte, denn ich sprach fließend Deutsch, thematisierte meine Herkunft äußerst selten, passte mich an, kurzum: Ich gab ein Musterbeispiel an Integration ab“, und trotzdem muss sie sich permanent rechtfertigen für ihr Tun und ihre Herkunft und kämpft über zehn Jahre lang mit den Regularien der deutschen Ausländerpolitik, in der ein Hund mehr Rechte hat als eine renommierte Autorin, der die deutschen Amtsschimmel nur einen Duldungsstatus zugestehen.

Ihre immer wieder eingestreuten Anekdoten aus dem täglichen Leben in Deutschland zeigen ein Land, in dem die Regulierungswut der Bürokraten nach und nach den gesunden Menschenverstand und den mündigen Bürger abschaffen. „Ich bin schwanger. Ich bitte einen Schaffner im Zug, meinen Koffer auf die obere Ablage zu legen, er antwortet mir, dass er dies ‚aus versicherungstechnischen Gründen‘ nicht tun kann.“


Batumi. Piazza. Foto: Aleksey Muhranoff. wikimedia commons

 

Und trotz all dieser Schikanen und Missstände ist die Rückkehr in das Mutterland keine Option. „Denn aufgewachsen bin ich in den düsteren, postsowjetischen 1990ern, eine apokalyptische Zeit voller Anarchie, Krieg, Gewalt, Drogen, Überleben, Dunkelheit und Gefahr. Nichts war sicher, niemand garantierte einem einen Morgen und niemand erhob einen Anspruch darauf.“ Glaubt man den jüngsten Wahlen in Georgien, möchte eine von Russland indoktrinierte Mehrheit scheinbar in diese Vergangenheit zurück. Die weltweit um sich greifende Lernunfähigkeit und Geschichtsvergessenheit hat sich also auch in diesem Land durchgesetzt.

Eine meiner drei Lieblingsstädte ist Batumi. Der Gedanke, dass in dieser einzigartigen Metropole am Schwarzen Meer demnächst vermutlich nur noch Erdogan- und Putin-Anhänger Urlaub machen werden, schmerzt mich unendlich.

Nino Haratischwili
Europa, wach auf!
Texte und Reden 
Plädoyer für die Verteidigung der Demokratie in bedrohten Zeiten
192 S., brosch.
ISBN: 978-3-627-00335-7
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main  2025
 
 
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Erstellungsdatum: 21.12.2025