Manuela Klenke übersetzt „re.volver“ von Livia Ștefan aus dem Rumänischen
Bekenntnis und Wahrheitzeugnis, Offenbaren des Unaussprechlichen, Wildheit und Anarchie, Grenzüberschreitung, Schönheit und Sprachmusik: Es gibt viele Motive, Gedichte zu schreiben. Die rumänische Lyrikerin Livia Ștefan möchte im Puzzle der geschichtlichen Gegenwart mit ihrer Poesie das fehlende Teil ersetzen – das Vergessen. Sie spricht deshalb von investigativer Poesie, von narrativem poetischen Journalismus, um den Opfern der Geschichte ihre Geschichten erzählen zu lassen. Manuela Klenke hat Ștefans Gedichtband „re.volver“ ins Deutsche gebracht, und Ortwin-Rainer Bonfert hat Poesie und Übersetzung in den Blick genommen.
Der Begriff re.volver in dieser gewählten Schreibweise impliziert sowohl eine rückwärts gewandte Bewegung (lat.: revolvere), als auch militante Standhaftigkeit. Die schwer ertragbare Ambivalenz der davon evozierten Gefühle in der vielschichtigen Realität zwischen dem Gestern und der Unsicherheit ist der Grundton der Gedichte von Livia Ștefan, die schneller gelesen als verinnerlicht sind.
Es heißt, Lyrikerinnen und Dichter sind emotional unbehauste Menschen, die ihre eigentliche Heimat immer in der Sprache finden. Immer? Immer ist hier ein Sehnsuchtsort. Anstelle gewisser Kontinuität werden hier Verse aus einem Gedankenproviant gespeist, dessen Einfälle mittendrin aufkommen, gefolgt von der ungewissen Suche nach deren Beginn, um überhaupt eine Chance auf ein Ende zu haben. Solche gedankliche Erkundungstouren erscheinen vordergründig wie ein einziges Oxymoron – wirr und dennoch nachvollziehbar, vor allem aber nachempfindbar.
Die Verse von Livia Ștefan widerspiegeln gedankliche Umwälzungen von diffusen Gefühlen zwischen Erinnerungsfragmenten und trotziger Selbstbehauptung:
"HEUTE MORGEN
nach dem Kaffee und dem Duschen
habe ich meinen früheren Kopf komplett verlassen
das alte Tier hob die Hufe"
In diesem Mindmapping ohne Landkarte hat das lyrische Ich Furcht davor „es nicht einmal [zu] schaffen // zu mir zu kommen“. Doch aus jener Furcht vor „den Wörtern die bleiben“ und zementierter „Fehlerbilanz“ sprießt der Samen
„... für eine Sekunde mit aller Kraft zu lieben
deinen Leib mit meinem Leib zu berühren
deine über meine gebreiteten Finger zu küssen
deine Füße zu waschen und neben dir zu seufzen“
Livia Ștefan nimmt die Leserschaft vom ersten Gedicht an mit auf empathische Erkundung in eine Welt der Melancholie vermeintlicher Gothic-Subkultur; eine Welt, die sich jedoch als Giurgiu an der Donau in der rumänischen Tiefebene entpuppt. In jener Stadt, „in der Menschen lauter bellen als Hunde“ herrscht Tristesse
„ohne Anfang und ohne Ende
wie ein Ehering
ohne Anfang
ohne Ende“
Bei fehlender Interpunktion sind lediglich Zeilenumbrüche, Wiederholungen und vereinzelt Leerzeilen formgebend, was die Lyrikerin geschickt zu nutzen weiß. Mit passiver Aggression schreibt sie lakonisch über ihre Heimatstadt im Niedergang:
die Hunde und
diese idiotischen Nachbarn
haben den Eindruck
uns ist noch nie was passiert
niemals
Luftzug unter den Türen
alles ist gleichgeblieben
idem1
idem2
idem3
bis es kein Zurück mehr gibt
Just in jenem Moment, in dem bei der Lektüre der Eindruck aufkommt, da schreibt eine einsame „Trulla“, was ihr gerade durch den Kopf geht, blättert man zum nächsten Gedicht, das tatsächlich den Titel trägt: „ICH BIN EINSAM UND SCHREIBE WAS MIR DURCH DEN KOPF GEHT“. Jenes Gedicht besteht dann auch aus Gedankenfetzen, jedoch gut durchdacht formuliert. Livia Ștefan beweist Geschick und Mut auch zu experimenteller Literatur, in der Worte als ein leidvolles Wiedersehen der Gefühle gelten, wie es Nichita Stănescu in den 1970ern umschrieb.
Ohne Pathos und Sozialkitsch werden in vorliegendem Band materielle und immaterielle Entitäten gegenübergestellt: „... ich werde von meinem eigenen Gehirn zerfressen // gequetscht // wie Arbeitslose auf einer Schiffswerft // vor der Liebe stehen wir beide wie zwei leere Lager“
Livia Ștefan zählt u.a. mit Andra Rotaru („Tribar“ in Übersetzung von Alexandru Bulucz im Elif-Verlag) und Svetlana Cârstean (Teilübersetzungen von Eva Ruth Wemme auf lyrikline.org) zu rumänischen Lyrikerinnen, die mit ihrer stilechten Poetik anregende Reflektionen des lyrischen Ichs in ungewohnten literarischen Räumen vermitteln.
Vergleicht man das Anfangsgedicht „ES WIRD IMMER PLATZ GEBEN“ mit dem Original „întotdeauna va fi loc“, so erkennt man Anzeichen im Ringen der Übersetzerin Manuela Klenke für eine atmosphärisch zutreffende sprachliche Übertragung. Beispielsweise verzichtete sie auf ein Adjektiv zugunsten einer Formulierung mit einem Adverb. Anstatt der Spiegelübersetzung „... eine Umarmung // schlicht // wie eine Opfergabe" entschied sich Manuela Klenke sinnvoll für „... eine Umarmung // die leicht fällt // wie eine Opfergabe“.
Übersetzungen dieser Art bedeuten nichts weniger, als den Text neu zu denken. Manuela Klenke schildert beispielhaft in ihrem Nachwort, welche Abwägungen sie traf, um für das Substantiv „zgomot“ (dt: Geräusch) den Begriff „Geräuschkulisse“ zu wählen. Es klingt, als könne sie nie wirklich zur Entspannung abschalten; als habe man immer eine ungelöste Metapher im Hinterkopf. Ihre Arbeit ist eine Gratwanderung zwischen Bewahrung des tieferen Sinns und wortgetreuer Übertragung. Das Ergebnis: Diese Übersetzerin ist quasi unsichtbar – ein Paradox. Eine linkische Übertragung fällt auf. Diese gelungene hingegen wird – vertieft in die Lektüre – für den Originaltext gehalten, so dass die Übersetzungsleistung gar nicht wahrgenommenen und somit unzureichend gewürdigt bleibt.
Die Gedichte von Livia Ștefan wurden bereits ins Spanische, Schwedische, Türkische, Englische, Polnische und Slowenische übersetzt. Nun liegt ihr erster Gedichtband von 2012 auch auf Deutsch vor, und das ist gut so. Wie auch in anderen Fällen übernahm die Übersetzerin die Rolle des literarischen Scouts, der jene Lyrikerin entdeckte und Adrian Kasnitz vom Verlag „parasitenpresse“ in Köln dafür überzeugen konnte – hoffentlich ein Vorgang mit Fortsetzung.
Livia Ștefan
re.volver
Gedichte
Übersetzung aus dem Rumänischen von Manuela Klenke
80 S. brosch.
ISBN: 978-3988050403
Parasitenpresse, Köln 2024
Erstellungsdatum: 01.06.2025