In seinem jüngsten grandiosen Roman „No te veré morir“ (Seix Baral) verweist Antonio Muñez Molina wiederholt auf die Musik von Johann Sebastian Bach – insbesondere auf seine Cello-Suiten – sowie auf den legendären Cellisten Pablo Casals, der vor 50 Jahren verstorben ist. Die Monatszeitschrift Tinta Libre bat den Autor um eine literarische Meditation über diese Musik, und Claudia Gehricke übersetzte den Beitrag aus dem Spanischen für Textor.
Unübertroffen dürfte die erste vollständige Aufnahme aller Bach-Suiten sein. Eingespielt wurden sie von Pablo Casals für EMI gegen Ende des Spanischen Bürgerkriegs mit einem Soloinstrument, dessen harmonische Möglichkeiten begrenzt sein mögen, das aber einen großen mit Saiten bespannten Resonanzboden besitzt, über den sich ein schwingungsfähiger Holzkorpus wölbt. Die fast schon dramatische Ernsthaftigkeit und Strenge dieses Instruments, dessen Ton einen erzittern lässt und zu Tränen rührt, kann urplötzlich in ungebremste Lebensfreude umschlagen und die Seele tanzen lassen, so als verwandele sich die anfängliche Schwere in Leichtigkeit und Anmut, wie es Simone Weil ausdrückte. In einer Welt, deren Kultur durch Überfluss, Effekthascherei und Populismus gekennzeichnet ist, kommen die Präludien aller sechs Cellosonaten des Thomaskantors mit einer Schlichtheit und Ruhe daher, die eher an die Natur, das Plätschern eines Brunnens, das Rauschen der Bäume im Wind, wenn nicht sogar an die uns fremden Töne denken lassen, mit denen Wale über tausende von Kilometern hinweg quasi singend kommunizieren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich die Präludien der Cellosonaten das erste Mal (natürlich von Casals gespielt) gehört habe. Aber ich weiß noch genau, welch umwerfendes Erlebnis es für mich war, diese Musik zu hören und wie sie mich in ihren Bann zog. Nicht einmal Bachs Sonaten und Partiten für Solovioline, die ich ja bereits kannte, hatten mich auf diese Entdeckung vorbereitet. Die Violine gehört zum Reich der Baumwipfel und der Vögel, das Cello zum Reich der Wurzeln und der Erde.
Die Emotionen, die die Musik und andere Künste schon immer in mir weckten, haben meine Fähigkeit des Nachahmens und Hinzulernens für meine eigene Arbeit, das Schreiben von Literatur, geschärft. Ich glaube, Schriftsteller können von anderen Künsten viel lernen. Denn wagt sich der Schriftsteller aus der eigenen etwas entrückten Arbeitswelt heraus, kann ihm dies je nach Neigung und Talent die Augen öffnen für die Musik, die Malerei und/oder den Film, um dann ein Gespür für expressive Phänomene zu entwickeln, was wiederum seine eigene Arbeit bereichern wird: Von der Malerei, dem Film und der Fotographie lernen Schriftsteller das Anschauen von Dingen. Sie lernen, wie man verschiedene Möglichkeiten des Erzählens und der Poesie entdeckt und sie über die Sprache verinnerlicht. Was ich von der Musik gelernt habe, ist das Bewusstsein und die Erkenntnis, dass das Schreiben eine Kunst der Zeit ist, ein durch Rhythmus und Klangfolgen geformtes Fließen. Der Satz ist wie in der Musik eine Grundeinheit in der Literatur, und die Punktierungs-/Phrasierungszeichnen sowie die Pausen haben ebenso wie das Tempo einen bestimmten Zweck und Sinn. Die Musik lehrt uns, nicht zu vergessen, dass unterhalb der statischen Form einer gedruckten Seite das Sprechen und der Erzählfluss liegen, die älter sind als die Schrift, und dass es den Gesang bereits vor den Elementen unseres Notensystems gegeben hat.
Was ich von der Musik als einer von der Zeit bestimmte Kunst, einer von Rhythmus und Wiederholung vorangetriebenen fließenden Bewegung, gelernt habe, ist die Schärfung meiner Wahrnehmung während des Schreibens. Der Satz ist die einzige Grundeinheit, die die Literatur und die Musik gemein haben. Die Phrasierungen und Pausen sind ebenso bedeutungs- wie temporelevante Hinweise. Die Musik hilft uns, nicht zu vergessen, dass sich hinter der statischen Erscheinung einer gedruckten Seite der Fluss des Sprechens und des mündlichen Erzählens als dem Vorgänger der Schrift verbirgt und so ist auch der Gesang der Vorgänger der Noten.
Was der Schriftsteller aber auch von der Musik lernen kann, ist der Kontrast zwischen emotionalem Ausbruch und verhaltenem Erleben, zwischen Trance und strenger Metrik, plötzlicher Feierstimmung und höchster Dramatik. Der Mitschnitt einer Unterrichtsstunde, die Pablo Casals noch im vorgerückten Alter einem Meisterschüler gab, zeigt, wie ein ebenso strenger wie sanftmütiger Lehrer das Vorspiel seines Schülers mit einer Mischung aus Autorität und Milde mit den Worten kommentierte: „Sehr schön gespielt, diese Fantasie, sie braucht aber auch eine Struktur.“ Wenn es um das Improvisieren in der Musik geht, denken wir zunächst an den Jazz, aber in der Epoche der klassischen Musik, als man den Begriff der „Klassik“ an sich noch nicht kannte, verstand man unter „improvisieren“ das Vortragen eines Musikstücks. Die Meister des Barocks und der Klassik, wie Bach, Mozart und Beethoven, wurden wegen ihres Improvisationstalents bewundert für ihre Fantasie und Struktur. Die späten Sonaten von Beethoven vermitteln dem Hörer den Eindruck, sie würden in dem Moment des Vortragens komponiert, quasi genau in dem Moment, in dem die Tasten angeschlagen werden – mit Momenten des Zögerns, des Hinhaltens und des Ausbruchs, des plötzlichen Richtungswechsels, des Insistierens und Drängens und einer gewissen Sturheit beim Spielen der Variationen über ein unerschöpfliches Thema. Eruptionen dieser Art werden eher der Poesie zugeschrieben, die einzelne Worte funkeln und strahlen lassen, aber es gibt sie auch in Romanen, Verbalorgien, witzigen Einfällen, die sich, wenn Glück und Talent hinzukommen, in dem Moment auf den Leser übertragen, in dem er die Zeilen liest.
Ich habe einige Male gehört, wie John Coltrane eine geschlagene halbe Stunde ununterbrochen über den Walzer „My Favourite Things“ improvisierte und ich mir in dem Moment wünschte, so schreiben zu können, wie er spielte – ohne zu wissen, wohin die Reise geht und wo sie endet, mich stattdessen auf unerklärliche Weise im Schreiben wie in der Musik zu verlieren und immer in der Gewissheit zu wiegen, dass ich meinen Weg finden werde. Trance und Üben, Fantasie und Ordnung, Freiheit und Disziplin. In Schwarzweiß-Filmaufnahmen von Konzerten ist Casals zu sehen, wie er die Suiten mit höchster Konzentration spielt, die Augen geschlossen, begleitet von der Gestik eines Somnambulen, eines von der Musik, dem Geist Bachs Besessenen wie in einer spirituellen Sitzung.
Etwas haben Casals und der legendäre ebenfalls katalanische Pianist Monk gemein: eine absolut ästhetische Integrität und Konzentration auf ein essentielles Repertoire und gleichzeitig einen Reichtum an neuer spezifischer Integrität ohne jegliche Monotonie. Für Casals ist diese Integrität quasi das exakte Äquivalent und beste Beispiel für seine andere Integrität in Bezug auf Moral und Politik. Darin ähnelte er seinem Zeitgenossen Manuel de Falla, einem anderen seinem Land tief verbundenen Revolutionär, Komponisten und Weltenbummler, der mit priesterähnlicher Strenge wie ein Geschäftsleiter auf mittlerer Führungsebene agierte. Die Suiten von Bach, so abstrakt und so entrückt von allem Weltlichen sie sein mögen, gehörten zum zivilen Aktionismus von Pablo Casals, der so überzeitlich war, dass er sich von historischen Ereignissen nicht aus der Bahn werfen ließ – unberührt von der Brutalität des spanischen Bürgerkriegs (und der bitteren Niederlage der Republikaner) sowie dem Kompromiss, den Casals stets in puncto Freiheit, insbesondere der Freiheit von Katalonien und ganz Spanien, geschlossen hat. Bei seinem Protest hat er sich von der skandalösen internationalen Anerkennung Francos nicht beeindrucken lassen. Dieser greise untersetzte Mann mit Glatze hat nie aufgehört, sich mit der Musik zu verbinden, in ihr aufzugehen, in einer Musik, die er liebte und kannte. Er war der Welt stets zugewandt. In der damaligen Epoche, in der ihm in Spanien Zynismus entgegenschlug, war seine unerschrockene Integrität einfach bewundernswert.“
Zuerst erschienen in „Tinta Libre" 11/23. Übersetzung Claudia Gehricke
Claudia Gehricke hat angewandte Sprachwissenschaften mit Schwerpunkt Spanisch und Englisch sowie Literaturwissenschaft und Psychologie studiert. Sie lebt in Frankfurt und arbeitet als Übersetzerin bei einem Kreditinstitut. Seit 15 Jahren ist sie Co-Leiterin des Lesezirkels des Literaturhauses und stellt in der Frankfurter Denkbar spanische Literatur und Autoren vor.
Pablo Casals
Johann Sebastian Bach (1685-1750)
Cellosuiten BWV 1007-1012
2 CDs
Erstellungsdatum: 23.07.2024